Bewertet am 25. März 2021
Veröffentlicht von: SWR (online)

Wir alle kennen sie, die Heldengeschichten von Menschen, die sich gegen die Autoritäten aufbäumen, ihren Weg unbeirrt verfolgen, auch in der Wissenschaft. Im vorliegenden journalistischen Beitrag von SWR Wissen wird eine solche vermeintliche Heldengeschichte (zurecht) kritisch hinterfragt: Der Mediziner Winfried Stöcker hat angeblich im Alleingang einen hoch wirksamen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt. Was hinter diesen Behauptungen steckt, hat der Artikel sehr gründlich analysiert und stellt zudem klar, wie eine Impfstoffentwicklung eigentlich aussehen muss.

Zusammenfassung

Der Text setzt sich mit einem selbst ernannten Impfstoffentwickler aus Lübeck auseinander und kritisiert eine fragwürdige Video-Berichterstattung zum Thema auf Spiegel Online. Es wird klar, dass der Mediziner Winfried Stöcker seinen Impfstoff nicht im Rahmen des vorgeschriebenen Zulassungsverfahren untersucht hat. Stattdessen hat er ihn einfach an einhundert Freiwilligen ausprobiert. Was daran problematisch ist und welchen Weg eine Impfstoffentwicklung üblicherweise nimmt, wird ausführlich dargestellt. Zudem wird deutlich, dass die von Stöcker behauptete Wirksamkeit in keiner Weise belegt ist, ebenso wenig wie die vermeintlich gute Verträglichkeit des Impfstoffs. Gelungen ist auch die Recherche zu Stöckers Plan B, wie er das offenbar nennt: Die Rezeptur des Impfstoffs auf seine Webseite zu stellen, so dass andere Ärzte ihn nachbauen können. Warum dieses Vorgehen rechtlich fragwürdig ist, wird von zwei Expertinnen erklärt. Zudem wird das Spiegel-Video dafür kritisiert, dass es die Behauptungen von Stöcker distanzlos übernimmt und nicht hinterfragt. Allerdings wäre eine klare Gliederung des Textes – Kritik an Stöcker, Kritik am Spiegel-Video – schön gewesen. Auch werden wissenschaftliche Begriffe zum Teil nicht erklärt, was den Text für Laien schwer verständlich machen dürfte.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der journalistische Beitrag setzt sich mit zwei Themenaspekten auseinander: zum einen mit dem vermeintlichen Impfstoff des Lübecker Forschers Winfried Stöcker, zum anderen mit einem Spiegel-Video über den Wissenschaftler. Die LeserInnen erfahren, Stöcker habe „ein Antigen entwickelt, mit dem er Covid-19 bekämpfen will. Sich selbst und hundert Freiwilligen habe er das Antigen auch schon gespritzt“. Laut Stöcker sei der Impfstoff hoch wirksam. Seine Angaben zur Wirksamkeit stammten von einem Selbstversuch und den einhundert Freiwilligen, denen er das Antigen verabreicht habe. 97 Prozent der Geimpften hätten hohe Konzentrationen an Antikörpern entwickelt. Sogleich wird den LeserInnen im Text aber erklärt, dass offenbar gar nicht alle Proben auf Antikörperkonzentrationen untersucht wurden, sondern nur die von Stöcker. Und, dass sich die Wirksamkeit eines Impfstoffs nicht im Labor beweisen lasse. Vielmehr könne Stöcker „keine Aussage treffen, ob und in welcher Häufigkeit durch seinen Impfstoff Infektionen komplett vermieden werden können oder ob und in welcher Häufigkeit schwere oder mittelschwere Verläufe vermieden werden. Um all diese Daten zuverlässig erheben zu können, müssen eben tausende bis zehntausende Menschen untersucht werden“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Stöcker wird mit der Behauptung zitiert, „die Nebenwirkungen bei seinem Impfstoff seien gering“, seine Aussage im journalistischen Beitrag aber sogleich kritisch eingeordnet: „Zuerst muss im Reagenzglas und später in Tierversuchen geklärt werden, ob ein möglicher Impfstoff oder ein Medikament voraussichtlich ungefährlich ist. Dabei steht die Sicherheit im Mittelpunkt: Gibt es Hinweise auf toxische Effekte oder eine krebsfördernde Wirkung? Werden Embryonen geschädigt? Wird das Erbgut verändert?“ Auch lasse „sich von seiner Testgruppe mit 100 Personen kein zuverlässiges Nebenwirkungsprofil erstellen“. Nebenwirkungen, die bei einer von 1.000, 10.000, 100.000 oder 1.000.000 Personen auftreten könnten, habe Stöcker wahrscheinlich nicht entdeckt. Ob er die Nebenwirkungen bei seinen Freiwilligen überhaupt überwache, bleibe zumindest fraglich. Zudem enthalte der Impfstoff ein Adjuvanz, also einen Wirkverstärker, durch den das Risiko von Nebenwirkungen steige: „Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion oder mit einer Aluminium-Allergie sollte solch ein Impfstoff nicht verabreicht werden“. Es werden also Stöckers Behauptungen aufgeführt, kritisch analysiert – und schließlich mögliche Risiken für manche Bevölkerungsgruppen genannt.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Stöcker selbst will seinen Impfstoff an rund einhundert ProbandInnen verimpft haben. Die LeserInnen erfahren aber, dass er weder eine Zulassung für seinen Impfstoff hat, noch eine Genehmigung, den Wirkstoff Probandinnen und Probanden zu verabreichen. Sein Vorgehen hat ihm sogar eine Strafanzeige eingebracht. Nun verfolge Stöcker einen Plan B – den Impfstoff nicht herzustellen, aber die Rezeptur für seinen wichtigsten Bestandteil – das Antigen – auf seine Homepage zu stellen. Mit der Offenlegung der Rezeptur des von ihm entwickelten Antigens könne „dann jeder Arzt seinen eigenen Impfstoff herstellen und seinen Patienten verimpfen“. Dieses Vorgehen wird als rechtlich fragwürdig eingeordnet, wie verschiedene Experten im Text erklären.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird klar, dass bereits vier Impfstoffe in der EU zugelassen sind, nachdem sie das vorgeschriebene Verfahren durchlaufen habe. Die LeserInnen erfahren auch, dass Stöcker einen Protein-Impfstoff entwickelt hat und dass viele Pharmafirmen ebenfalls Protein-Wirkstoffe gegen das Corona-Virus entwickeln. So habe das US-Unternehmen Novavax seinen Protein-Impfstoff an insgesamt 30.000 Probanden in einer Phase-III-Studie getestet und gebe eine Wirksamkeit von neunzig Prozent an. Auch mRNA-und Vektorimpfstoffe werden im Text genannt.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Es wird thematisiert, dass Stöcker das „Rezept“ seines Impfstoffs kostenlos anbieten wolle. Weitere Kosten werden im Text nicht erwähnt. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Dass Covid-19 ein großes Problem darstellt, sollte mittlerweile bekannt sein. Die Krankheit wird nicht weiter erwähnt, somit auch nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Artikel setzt sich zunächst mit der Behauptung Stöckers auseinander, dass 97 Prozent der Geimpften Antikörper entwickelt hätten, was offenkundig nicht belegt ist: „Seine Angaben zur Wirksamkeit stammen von einem Selbstversuch und den einhundert Freiwilligen, denen Stöcker das Antigen verabreicht hat. 97 Prozent der Geimpften haben, Stöckers Aussage zufolge, hohe Konzentrationen an Antikörpern entwickelt. Wie hoch diese Konzentrationen genau sind, wird nicht angegeben. Sie sollen aber ausreichen, um das Virus zu neutralisieren. Entsprechende Unterlagen oder eine belastbare Einschätzung durch ein Labor werden im Beitrag nicht angeführt.“ Auch gibt Stöcker an, dass Neutralisationstests im Labor der Charité ergeben haben, dass die in seinem eigenen Körper gebildeten Antikörper in der Lage gewesen seien, das Virus zu neutralisieren. Dazu heißt es im Beitrag: „Zumindest theoretisch ist das möglich. Die Wirksamkeit des Antigens als Impfstoff wäre damit aber noch lange nicht erwiesen. Die wird nämlich nicht nur im Labor ermittelt – und schon gar nicht anhand nur einer einzigen Probe.“ Hier beschreibt der Artikel ausführlich, welche verschiedenen Stufen der Prüfung ein Impfstoff vor der Zulassung durchlaufen muss. Und dass Stöcker sich alle diese Etappen gespart habe. Selbst die Prüfung im Reagenzglas oder Tierversuch fehle. Bereits in diesem Stadium der Entwicklung würden Ergebnisse üblicherweise veröffentlicht, in einem so genannten „peer review“-Verfahren von unabhängigen Wissenschaftlern überprüft und zur Diskussion gestellt. Stöcker habe bisher jedoch keine Ergebnisse dieser Art veröffentlicht.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) wird mit der Aussage zitiert, man habe Stöcker angeboten, ihn wissenschaftlich und in Fragen der Genehmigung von klinischen Studien und des Zulassungsverfahrens zu unterstützen. Zudem sei Stöcker informiert worden, dass die von ihm beschriebene Impfung von weiteren Personen als eine „nicht genehmigte klinische Prüfung“ gewertet werden könne und strafrechtliche Konsequenzen haben könnte. Gegen Ende des Artikels werden die Pressesprecherin des PEI und der Pharmarechtsexperte Wolfgang Voit mit einer rechtlichen Einschätzung zitiert, ob Ärzte die von Stöcker veröffentlichte Rezeptur einfach nachbauen dürfen und Stöcker sich womöglich durch das Angebot strafbar macht, Antigene gefriergetrocknet zuzusenden. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, einen unabhängigen Experten auch zum Impfstoff selbst zu befragen. Der Text begründet zwar ausführlich, warum ein Wirksamkeitsnachweis fehlt, warum Stöcker Nebenwirkungen nicht erfasst, aber das beruht offenbar alleine auf der Einschätzung des Autors. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Es wird indirekt deutlich, dass der Arzt Winfried Stöcker ein Eigeninteresse an der Impfstoffentwicklung hat. Auch wenn es sich nicht um einen Interessenkonflikt handelt, ist noch erwähnenswert, was das Magazin Focus zur Person Stöcker recherchiert hat: Stöcker ist offenbar AFD-nah, warnt vor der Islamisierung Deutschlands, möchte Geflüchtete am liebsten in ihre Heimat zurückschicken und empfiehlt Mädchen und Frauen eine „zurückhaltende“ Kleidung. Der Focus schreibt: „Mit dem Impfstoff hat die ethische und gesellschaftliche Haltung eines Mediziners zwar grundsätzlich nichts zu tun. Wenn jemand laut eigenem Blog `davon durchdrungen ist´, `wo immer ich kann, meinen Beitrag zur Beendigung bösartiger Gewalt und Ungerechtigkeit zu leisten´, darf sie und die Frage der generellen Seriosität jedoch thematisiert werden.“ (siehe auch: focus.de/gesundheit/coronavirus) Da all dies im journalistischen Beitrag von SWR Wissen nicht erwähnt wird, werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Es wird klar, dass das Wirkprinzip des Impfstoffs nicht neu ist. Auch andere Proteinimpfstoffe sind bereits in der Entwicklung: „Bei dem Wirkstoff handelt es sich um eine Protein-Untereinheit des Spike-Proteins des Coronavirus. Ein Protein-Impfstoff also – bei weitem keine neue Idee. Viele Grippe-Impfstoffe zum Beispiel funktionieren nach diesem Prinzip.“ Auch wird auf den Impfstoff Novavax verwiesen: „Und auch was Corona-Impfstoffe angeht, betritt Stöcker kein Neuland: Viele Pharmaunternehmen, zum Beispiel das US-Unternehmen Novavax, entwickeln auch gegen das Coronavirus Protein-Impfstoffe.“ Dass Stöckers Vorgehen rechtlich fragwürdig und womöglich strafbar ist, wird ebenfalls deutlich. Es hätte aber klarer dargestellt werden müssen, dass Stöcker letztlich einen Menschenversuch durchführt außerhalb des Settings einer klinischen Studie, von keinem Ethikkomitee geprüft und genehmigt. Dennoch werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Faktenfehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Wir haben keine Pressemitteilung zum Thema finden können. Daher gehen wir von einer eigenständigen Rechercheleistung aus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Beitrag hätte klarer gegliedert werden können, etwa indem zunächst kurz geschildert wird, was an Stöckers Behauptungen fragwürdig ist und im zweiten Schritt, was an dem Spiegel-Video zu kritisieren ist. So aber verliert sich der Text zeitweise in minutiösen Beschreibungen der E-Mails, die man im Videobeitrag auf dem Schreibtisch des Forschers entdecken kann. Auch die Expertenzitate im Text erscheinen teilweise etwas willkürlich. Lange Zeit verzichtet der recht ausführliche Text sogar ganz auf Expertenstimmen. Erst am Ende des Beitrags häufen sie sich dann, als es um die rechtliche Einschätzung geht, ob Ärzte die Rezeptur von Stöcker einfach nachbauen dürfen. Zudem wird der Zulassungsprozess in drei langen Absätzen erklärt, hier wäre es für den Lesefluss schön gewesen, die Informationen etwas zu raffen. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel setzt zu viele Kenntnisse voraus. Man erfährt zum Beispiel nicht, was Immunisierung mit Antikörperbildung zu tun hat. Oder was ein Neutralisierungstest ist. Begriffe wie „Antigen“ und „mRNA- und Vektorimpfstoffe“ werden nicht erläutert und erschweren die Verständlichkeit für Laien. Auch die Art des Impfstoffs, die Stöcker entwickelt hat, wird nur sehr knapp beschrieben: „Bei dem Wirkstoff handelt es sich um eine Protein-Untereinheit des Spike-Proteins des Coronavirus.“ Was aber ist eine Protein-Untereinheit? Was ein Spike-Protein? Das wird nicht näher ausgeführt. Es wird auch nicht erklärt, zu welchen Nebenwirkungen das Adjuvans Allhydrogel führen kann. Und schließlich bleibt für den Laien auch unverständlich, wieso für die Impfstoffherstellung Antigene gefriergetrocknet zugesandt werden müssen.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Stöckers Impfstoffversuche sind rechtlich und ethisch fragwürdig, die Berichterstattung im Spiegel-Video skandalös, beides ist aktuell und hoch relevant.

Medizinjournalistische Kriterien: 12 von 15 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar