Bewertet am 11. Mai 2015
Veröffentlicht von: Focus Online

Im Rahmen einer Serie „Die schlimmsten Katastrophen der Menschheit“ blickt Focus Online auf die Explosion der Ölplattform „Deepwater Horizon“ zurück. Dabei wird die Dramatik der damaligen Ereignisse beschworen, doch liefert der Beitrag kaum Fakten zur aktuellen Situation und gibt Studienergebnisse nicht korrekt wieder.

Zusammenfassung

Focus Online berichtet zum fünften Jahrestag des Unglücks über die Havarie der Ölplattform „Deepwater Horizon“ am 22. April 2010 im Golf von Mexiko. Obwohl die Überschrift („…Umwelt bis heute bedroht“) Informationen über die noch andauernden Auswirkungen der Ölpest erwarten lässt, referiert der Beitrag über eine lange Strecke nur die bekannte Chronologie der Vorgänge vor fünf Jahren. Langfristige ökologische Folgen, die in den letzten beiden Abschnitten thematisiert werden, sind nur oberflächlich dargestellt. Informationen zu Handlungsoptionen fehlen ebenso wie die Einordnung in den politischen und wirtschaftlichen Kontext – so werden etwa die laufenden Schadensersatzprozesse nicht erwähnt. Die im Beitrag genannten wissenschaftlichen Untersuchungen sind zum Teil falsch interpretiert. Auch darüber hinaus finden sich im Beitrag mehrere Faktenfehler. Hinzu kommen grammatikalische und orthografische Fehler sowie erhebliche stilistische Schwächen. Insgesamt wirkt der Beitrag unter großer Eile „zusammengezimmert“, was bei einem Bericht anlässlich eines Jahrestages vermeidbar gewesen wäre.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Text erscheint in einer Serie mit dem Titel „Die schlimmsten Katastrophen der Menschheit“, bleibt aber bei der Beschreibung der konkreten Auswirkungen vage, so dass sich schwer erkennen lässt, ob der Umweltschaden so groß ist, dass er den Superlativ rechtfertigt. Womit wird hier verglichen? Oft fehlen für die Bewertungen konkrete Belege, so dass am Ende vor allem das Gefühl bleibt, es bestehe eine Bedrohung „bis heute“, ohne dass dies ausreichend mit Fakten untermauert wird. Richtig ist indes, dass es sich, gemessen an der ausgelaufenen Ölmenge, um die bislang größte Ölpest handelte, die weitreichende Folgen hatte. Insofern ist die drastische Formulierung nicht völlig unangemessen. Wir werten daher noch „knapp erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Text beruft sich auf zwei wissenschaftliche Arbeiten, die allerdings die Schlussfolgerungen im Beitrag so nicht stützen. In beiden Fällen gibt es erhebliche Diskrepanzen zwischen der Studie und der Darstellung im journalistischen Beitrag:

So berichtet der Artikel, dass der Einsatz der Dispersionsmittel das Absinken des Öls auf den Meeresboden bewirkt habe. Die dazu verlinkten Studie führt jedoch aus, dass die genauen Mechanismen beim Absinken der Ölpartikel unklar seien. Die Studienautoren spekulieren, dass hierbei u.a. Bakterien eine Rolle gespielt haben könnten. Zur vieldiskutierten Giftigkeit des Dispersionsmittels „Corexit 9500“, (z.B. hier und hier) fehlen jegliche Informationen und Belege im journalistischen Beitrag.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Bei etlichen Informationen im Artikel wird nicht klar, aus welchen Quellen sie stammen. Einzelne Formulierungen („Bis zum 5. Mai 2010 hat BP rund eine Million Liter Chemikalien eingesetzt“ und „Schon wenige Tage nach der Katastrophe hatte sich der Ölteppich auf der Wasseroberfläche auf eine Größe von etwa 10.000 Quadratkilometern ausgedehnt“) lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass sich ein Teil des Artikels auf die deutsche Wikipedia stützt, die ganz ähnlich formuliert. Der entsprechende Wikipedia-Beitrag ist indes als überarbeitungsbedürftig („entspricht nicht dem Stand der Forschung“) gekennzeichnet.

Zwei wissenschaftliche Studien werden verlinkt, aber fehlerhaft zitiert (siehe Kriterium 2). Auch sind die Quellenangaben nicht ganz korrekt: So wird eine Studie dem „Woos Hole Oceanographic Institut“ zugeschrieben. An der Studie hat zwar eine Mary A. Woo mitgearbeitet, die Forschungseinrichtung heißt jedoch „Woods Hole Oceanographic Institution“. Die andere Studie wurde nicht nur von der University of Georgia sondern von insgesamt 11 Forschungseinrichtungen erarbeitet.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Artikel erklärt, dass sich der Einsatz der Dispersionsmittel im Nachhinein „als falsche Maßnahme“ herausgestellt habe. In der Tat war und ist der Einsatz des Mittels „Corexit 9500“ heftig umstritten. Das es hierzu unterschiedliche Standpunkte gibt, erfahren Leserinnen und Leser jedoch nicht (siehe z.B. hier und hier). Es findet weder eine Abwägung gegenüber den möglichen Schäden durch noch größere Mengen angespülten Öls an den Küsten statt, noch wird die Frage erörtert, ob andere Mittel oder Maßnahmen – oder der Verzicht darauf – die Auswirkungen auf die Umwelt hätten effektiver reduzieren können. Insgesamt wird im Artikel nicht deutlich, worum es bei dieser Auseinandersetzung geht. Die angeführten Studien sind derart verkürzt dargestellt, dass deren Kernthesen kaum nachvollziehbar sind. Eine zweite Meinung findet sich zu keinem Punkt.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Beitrag stellt bekannte Fakten zu einem Rückblick zusammen und verbindet diese – wenn auch fehlerhaft – mit den Ergebnissen neuerer Studien. Vorliegende Pressemitteilungen (z.B. hier) spielten dabei offenbar keine Rolle.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es wird klar, dass der Anlass der Berichterstattung der fünfte Jahrestag der Deepwater Horizon-Katastrophe ist. Dagegen wird der Neuigkeitswert der angeführten wissenschaftlichen Studien nicht ausreichend deutlich. Zur „Studie der University of Georgia“ macht der Beitrag keine Zeitangabe – die Veröffentlichung liegt immerhin schon ein Jahr zurück. Zu der anderen Studie wird zwar das Publikationsdatum (Oktober 2014) genannt. Doch wird der Eindruck erweckt, dass damit, vier Jahr nach der Katastrophe, erstmals die Nachteile des Dispersionsmittels „Corexit 9500“ erkannt wurden („Rückblickend war das die falsche Maßnahme (sic), wie sich vier Jahre später herausstellte“). Dies ist falsch: Die Problematik dieser Chemikalien wird seit Jahren diskutiert (siehe Kriterium 4).

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Der Artikel nennt keine Lösungsstrategien und Handlungsoptionen. Es wird weder erläutert, ob und wie sich das Öl auf dem Grund des Golfs von Mexiko beseitigen ließe, noch erfährt man, ob es technische, politische oder rechtliche Konsequenzen aus dem Unglück gegeben hat. So wäre es zum Beispiel interessant zu wissen, wie der Einsatz von Dispersionsmitteln bei Ölunfällen heute geregelt ist, ob andere Methoden entwickelt wurden, um große Ölaustritte zu bekämpfen, oder ob für Ölbohrungen in großer Wassertiefe neue Bestimmungen gelten. Das seinerzeit geforderte Moratorium für Tiefseebohrungen, zu dem es nicht gekommen ist, wird nicht erwähnt.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Dass sich die Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko ereignete, macht schon die Überschrift klar. Es wird über die räumliche Ausdehnung der Umweltfolgen berichtet („Ein Ölteppich, flächenmäßig etwa viermal so groß wie Deutschlands Nachbarland Luxemburg“), doch wird die Ausbreitung des Öls auf dem Meeresboden recht ungenau dargestellt: Mit Verweis auf eine der verlinkten wissenschaftlichen Studien behauptet der Artikel, ein Großteil des Öls hätte sich auf einer Fläche von 3200 Quadratkilometern niedergeschlagen. Auf dieser Fläche haben sich aber laut der Studie nur zwischen 4 und 31 Prozent des unbekannt verbliebenen Öls abgesetzt. Für Aussagen über einen größeren Bereich fehlen die nötigen Bodenproben. Zumindest missverständlich ist auch die Angabe zu Schädigung der Küste: Es wird angegeben dass ein 75 Kilometer langer Küstenabschnitts in Louisiana betroffen war. Doch war auch die Küste weitere Bundestaaten (Mississippi, Alabama und Florida) schwer mit Öl verschmutzt, insgesamt also ein sehr viel längerer Küstenstreifen.
Zur Übertragbarkeit der Situation auf andere Regionen macht der Beitrag keine Angaben. Dabei hängen die Aus- und Nachwirkungen einer Ölpest stark vom jeweiligen Ökosystem und den Umgebungstemperaturen ab. Die Havarie der „Exxon Valdez“ im Jahr 1989 hatte beispielsweise besonders langanhaltende ökologische Auswirkungen, weil im kühlen Klima Alaskas der Abbau des Öls durch Bakterien wesentlich langsamer vorangeht als in warmen Gewässern.

Die gesamte Diskussion um das Verbot von Ölbohrungen in der Tiefsee blendet der Beitrag aus.

Wir werten insgesamt „knapp nicht erfüllt“.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Der Beitrag stellt die Abläufe rund um das Unglück 2010 in chronologischer Abfolge dar. Was aber in den folgenden Jahren wie schnell in der Umwelt geschah, bleibt hinter unscharfen Formulierungen verborgen („Doch schon wenige Jahre nach der Umweltkatastrophe schien sich am Golf von Mexiko der Ursprungszustand wieder einzustellen“, „Wenn es [das Öl] sich auf den Sedimentschichten ablagert und auf diese Weise in die marine Nahrungskette eindringt, kann das Leben am Meeresboden für lange Zeit absterben“). Was weiß man darüber, ob und in welchen Zeiträumen sich die Natur wieder erholen kann? Gibt es irreparable Langzeitschäden? Zu den Vorgängen im Ozean und auf dem Meeresgrund liefert der Beitrag keine zeitlichen Anhaltspunkte – kann das Öl am Meeresgrund noch abgebaut werden, und wie lange würde das dauern? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Ebenso wenig wird berichtet, welche Auswirkungen die Ölpest bis heute auf viele Tierarten hat (zu Delfinen und Schildkröten siehe z.B. hier).

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Beitrag liefert weder Hintergründe zu den direkten Kosten der Ölpest noch zu den langfristigen Einbußen von Fischern, Landwirten und der Tourismusindustrie. Auch die Bußgelder, zu denen BP verurteilt wurde, werden nicht erwähnt. Da keine Lösungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen aufgezeigt werden, erfahren Leserinnen und Leser auch nichts über deren Kosten. Laufende Schadensersatzprozesse spricht der Text nicht an. Auch den andauernden Streit um riskante Ölbohrungen in ökologisch sensitiven Gebieten thematisiert der Beitrag nicht.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Durch den fünften Jahrestag des Deepwater Horizon Unglücks gibt es einen Anlass für die Berichterstattung. Die Dimension der Katastrophe rechtfertigt eine Aufarbeitung der Langzeitfolgen zu diesem Zeitpunkt. Aufgrund der fortbestehenden Gefahr durch Tiefseeölbohrungen ist das Thema weiterhin relevant.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Artikel ist klar strukturiert und sprachlich verständlich. Doch neben den inhaltlichen Unklarheiten weist er auch viele sprachliche Mängel auf. Dazu gehören zahlreiche Rechtschreibfehler (Maßahme, Lousiana…) und misslungene Formulierungen: Da ist das Ausmaß unermesslich, ein Ölteppich war die Folge der Ölpest, und Wellen verkleben das Vogelgefieder. Viele Pflanzen starben massenhaft – ein weißer Schimmel. Und wenn es heißt, die Küstenlinie sei „wie ausgelöscht“ gewesen, ist wohl die Vegetation dortselbst gemeint, während die Küste sicherlich bestehen blieb.
Wenig sensibel erscheint uns auch die Formulierung „Elf Arbeiter ließen bei dem Unglück ihr Leben. Doch mindestens genauso folgenschwer waren die Auswirkungen auf die Natur.“

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Im Beitrag findet sich eine ganze Reihe von Faktenfehlern. Neben den Mängeln, die bei den umweltjournalistischen Kriterien 2, 3 und 8 schon genannt wurden, sind auch die Angaben zur Menge des letztendlich im Meer verbliebenen Öls und zur Menge des eingesetzten Dispersionsmittels nicht korrekt, zumindest haben wir dazu andere Angaben aus offiziellen Quellen gefunden: Von den ausgelaufenen 780 Millionen Litern wurden rund 130 Millionen Liter aufgefangen (siehe hier, S. 18); insgesamt wurden rund sieben Millionen Liter der „Corexit“-Dispersionsmittel eingesetzt (siehe hier), nicht eine Million.

Umweltjournalistische Kriterien: 2 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 1 von 3 erfüllt

Abwertung wegen zahlreicher Faktenfehler und Mängel in der Darstellung.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar