Bewertet am 6. Juni 2019
Veröffentlicht von: Deutschlandfunk

Der Deutschlandfunk berichtet über Ergebnisse von Untersuchungen im Auftrag der WHO – demnach sind Chlorparaffine sind die häufigsten langlebigen organischen Schadstoffe in der Muttermilch. Sie gelten als gesundheitlich bedenklich. Warum sie dennoch so vielfältig eingesetzt werden, wird im Beitrag nicht ausreichend deutlich.

Zusammenfassung

Anlass für den Radiobeitrag im Deutschlandfunk sind Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Muttermilch-Proben regelmäßig auf persistente organische Schadstoffe – kurz POPs genannt – untersuchen lässt. Vorläufige Ergebnisse wurden auf einer Tagung vorgestellt. Am häufigsten wurden Chlorparaffine mittlerer Länge gefunden. Diese Chemikalien werden als „problematisch“ bezeichnet, es ist von „Leberveränderungen“ und einem „Hang zum Auslösen von Krebs“ die Rede. Leider wird hier nicht nachgehakt, auf welche Studien die befragten Wissenschaftler sich bei diesen Aussagen beziehen. Doch zumindest weist der Beitrag darauf hin, dass noch nicht genug Daten zur Giftigkeit der Chlorparaffine vorliegen.

Der Beitrag lässt eine Wissenschaftlerin und einen Wissenschaftler aus unterschiedlichen Forschungseinrichtungen zu Wort kommen. So entsteht der Eindruck, dass zwei voneinander unabhängige Quellen herangezogen wurden. Tatsächlich arbeiten die beiden jedoch eng zusammen und publizieren gemeinsam – hier vermissen wir einen entsprechenden Hinweis und eine weitere, tatsächlich unabhängige Quelle.

Den gleichen Beitrag haben auch Laien-Gutachter des Medien-Doktor CITIZEN bewertet.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG/VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Das Risiko von Chlorparaffinen wird im Radiobeitrag so vorgestellt: „Am weitaus stärksten ist Muttermilch demnach mit Chlorparaffinen belastet. Deren Spitzenkonzentration übertreffe die der anderen POPs um mehr als das zwanzigfache, so die Analytikerin.“ Auch die Mittelwerte lägen etwa um das Zehnfache höher. Das klingt alarmierend, im weiteren Beitrag fehlen dann aber Bezugspunkte: Welche anderen POP wurden in der Muttermilch gemessen? Wie gefährlich sind Chlorparaffine im Vergleich zu diesen Chemikalien? Handelt es sich um vergleichbar giftige Stoffe wie etwa das im Beitrag genannte Lindan? In einem O-Ton heißt es, die Chlorparaffine hätten „einen Hang zum Auslösen von Krebs“. Hier fänden wir eine Einordnung notwendig, ob tatsächlich eine krebserzeugende Wirkung nachgewiesen ist. Insgesamt legt der Beitrag nahe, dass hier Gesundheitsgefahren drohen, ohne darüber näher zu informieren. Da andererseits auch einige Einschränkungen formuliert werden – die Ergebnisse seien kein Grund, nicht mehr zu stillen, die gemessene Konzentration sei „vergleichsweise wenig“ – werten wir nur knapp „nicht erfüllt“.

2. BELEGE/EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Es wird klar, dass es sich um eine turnusmäßige Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO handelt, und hier „vorläufige Ergebnisse“ vorgestellt werden, über die auf einer Konferenz berichtet wurde. Zu vielen Punkten fehlt allerdings eine Einordnung der Aussagekraft: Worauf beruhen die Aussagen zum Krebsrisiko oder zu „Leberveränderungen“? Sind dies Ergebnisse von Tierversuchen oder stammen sie aus epidemiologischen Studien? Was ist zur Giftigkeit von Chlorparaffinen bekannt? Was genau heißt es, dass in Afrika höhere Werte in der Muttermilch gemessen wurden – wie viel höher liegen die?

Immerhin weist der Beitrag darauf hin, dass die Studienlage zu vielen Punkten schlecht ist („die paar Studien, die es gibt“, „Es ist schwer, an die Daten zu kommen“). Auch heißt es, die toxikologische Bewertung sei „noch immer schwierig“. Damit wird zumindest am Schluss klar, dass es für das vom Experten geforderte Verbot noch keine harten Daten gibt, sondern er „aus Gründen der gesundheitlichen Vorsorge“ dafür plädiert. Insgesamt werten wir noch „knapp erfüllt“.

3. EXPERTEN/QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Abhängigkeiten deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Der Beitrag bezieht eine Expertin und einen Experten ein, die korrekt ihren unterschiedlichen Institutionen zugeordnet werden. Doch handelt es sich nur scheinbar um zwei voneinander unabhängige Quellen. Kerstin Krätschmer ist Doktorandin mit dem Thema Chlorparaffine an der Universität Hohenheim, und promoviert dort offenbar bei Walter Vetter, der im Radiobeitrag eher unbestimmt als Experte für Chlorparaffine zitiert wird. Diese Beziehung zwischen den beiden Gesprächspartnern wird im Beitrag nicht erkennbar. Kerstin Krätschmer hat den Tagungsbeitrag gemeinsam mit Walter Vetter und Rainer Malisch, der das Referenzlabor in Freiburg EURL leitet, sowie Alexander Schächtele erarbeitet.

Zudem fehlen Quellenangaben für weitere im Beitrag genannte Forschungsergebnisse, etwa zum Krebsrisiko, zu den Leberveränderungen oder den geschätzten Produktionsmengen.

Toxikologen, die die Gefährlichkeit der Substanzen beurteilen könnten, werden nicht gefragt, Epidemiologen, die die Folgen der Belastung größerer Bevölkerungsgruppen mit Chlorparaffinen untersucht haben könnten, tauchen im Beitrag ebenfalls nicht auf.

4. PRO UND CONTRA: Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

Knapp erfahren die Hörerinnen und Hörer, dass es eine Diskussion darüber gibt, ob nach den kurzkettigen Chlorparaffinen auch die mittel- und langkettigen Chlorparaffine, die vielfältig zum Einsatz in Alltagsgegenständen kommen, verboten werden sollten. Leberschädigung und ein „Hang zum Auslösen von Krebs“ werden auch den mittelkettigen Chlorparaffinen zugeschrieben. Prof. Vetter argumentiert, es gebe unschädlichere Alternativen. Warum die Industrie dennoch am Einsatz dieser Stoffe festhält, wird nicht deutlich. Sind sie billiger, wirksamer, oder was sonst spricht für die Verwendung der möglichen Umweltgifte?

5. PRESSEMITTEILUNG: Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus.

Wir haben keine Pressemitteilung dazu gefunden. Aus der Art des Beitrags mit verschiedenen O-Tönen wird klar, dass er nicht auf einer Pressemitteilung als einziger Quelle beruht.

6. ALT oder NEU: Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Der Beitrag verweist auf noch nicht publizierte WHO-Messungen, die „kürzlich“ auf einer Fachtagung vorgestellt wurden. Dass die mittel- und langkettigen Chlorparaffine erst relativ kurze Zeit als Umweltproblem wahrgenommen werden, macht der Radiobeitrag ausreichend deutlich, ebenso, dass derzeit Regulierungsmaßnahmen diskutiert werden.

7. LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN/kein „Greenwashing“: Der Beitrag nennt Wege, um ein Umweltproblem zu lösen, soweit dies möglich und angebracht ist.

Mit der Diskussion über die weitere Regulierung auf der POP-Liste wird knapp ein Handlungshorizont angesprochen. Ferner wird kurz von „unbedenkliche(n) Alternativen“ zu Chlorparaffinen gesprochen, die es „in fast allen Fällen“ geben soll. Doch welche das sein könnten, bleibt offen, es wird nicht ein einziges Beispiel angeführt. Damit bleibt für Hörerinnen und Hörer rätselhaft, warum die Chlorparaffine weiterhin massenhaft zum Einsatz kommen. Wir werten insgesamt „knapp nicht erfüllt“.

8. RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/regional/global): Die räumlichen Dimensionen eines Umweltthemas werden dargestellt.

Mit dem Hinweis auf höhere Belastungen aus den Muttermilchproben aus Afrika wird die regionale und globale Bedeutung des Themas diskutiert. Es wird berichtet, dass die Belastung in afrikanischen Ländern höher ist, und der Export von Elektroschrott dazu beiträgt. Gerne hätte man etwas genauer gewusst, von welchen Ländern genau die Rede ist, und wie viel höher die Belastung dort im Vergleich zu Europa ist. Aber da dies nicht das Hauptthema ist, werten wir noch „erfüllt“.

9. ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit): Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

Ein wesentliches Problem der Chlorparaffine und anderer POP sind ihre Langlebigkeit (Persistenz) , ihre Ausbreitung und Akkumulation in der Umwelt bzw. in Nahrungsketten im Laufe von Jahren oder Jahrzehnten. Möglicherweise können sich heute noch geringe Belastungswerte im Laufe der Zeit zu problematischen Werten auswachsen. Maßnahmen wie Anwendungs- oder Produktionsverbote wirken daher nur über lange Zeiträume. Dieser Aspekt wird aber im Beitrag nicht erläutert, ein Hinweis auf die Anreicherung der Stoffe im Körper und in der Umwelt fehlt.
Die Überschrift behauptet eine stark wachsende Produktion der problematischen Stoffe. Tatsächlich heißt es später im Beitrag aber, dass es keine verlässlichen Zahlen zur Entwicklung der Produktionsmengen gibt. Angeführt wird (ohne Quelle) eine Schätzung von 2012.

10. KONTEXT/KOSTEN: Es werden politische, soziale oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Angesichts von geschätzt mehr als einer Million Tonnen weltweit produzierter Chlorparaffine hätten wir in einem solchen Beitrag zumindest kurze Informationen zu deren wirtschaftlicher Bedeutung erwartet. Auch der politische Kontext kommt zu kurz: Dass über Maßnahmen gegen POP schon seit Jahren politisch diskutiert wird, erfährt der Zuhörer nur zwischen den Zeilen. Dass die WHO in Muttermilch nach Chlorparaffinen suchen lässt, ist ein Zeichen dafür, dass sich die internationale Gemeinschaft über diese Chemikalien Gedanken macht. Doch auf all die politischen Diskussionen und auf internationale Verträge, wie die Stockholm-Konvention zu persistenten organischen Schadstoffen, geht der Beitrag nicht ein.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. THEMENAUSWAHL: Das Thema ist aktuell, oder auch unabhängig von aktuellen Anlässen relevant oder originell.

Der Beitrag behandelt ein relevantes Thema und berichtet über erste Messergebnisse aus der noch nicht publizierten Muttermilchstudie der WHO, die auf eine Konferenz vorgestellt wurden. Das ist ein aktueller Berichtsanlass.

2. VERMITTLUNG: Komplexe Umweltzusammenhänge werden verständlich gemacht.

Der Beitrag ist gut verständlich und geht in einigen Fragen – kurz- mittel- und langkettige Chlorparaffine – auch in für Laien nachvollziehbarer Form in die Tiefe.

3. FAKTENTREUE: Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder.

Uns sind keine Faktenfehler aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 4 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar