Bewertet am 17. Mai 2016
Veröffentlicht von: Spiegel Online

Eine Kiefer in Brandenburg sei „der erste twitternde Baum der Nation“ vermeldet Spiegel Online. Doch das trifft nicht zu: Bäume, die twittern gab es schon vor Jahren, auch in Deutschland. Über das europäische Verbundprojekt, das den Effekt des Klimawandels auf Bäume erforscht und zu dem der verkabelte Baum gehört, erfährt man kaum etwas.

Zusammenfassung

Spiegel Online berichtet über ein Forschungsprojekt des Thünen-Instituts: Wissenschaftler haben eine Kiefer mit Sensoren ausgestattet, die vor allem den Flüssigkeitstransport im Baum erfassen. Damit wollen sie verfolgen, wie der Baum auf den Klimawandel reagiert. Als ungewöhnlich daran schildert der Beitrag nicht das Experiment selbst, sondern den Umstand, dass Messergebnisse kontinuierlich per Twitter im Internet dargestellt werden. Anders als im Onlinetext behauptet, ist es allerdings nicht der erste „twitternde Baum“. Ob der Twitter-Account auch einen wissenschaftlichen Wert hat, oder Teil einer umfassenderen Information der Öffentlichkeit ist, oder ob es dem Institut vor allem darum geht, Aufmerksamkeit für das Projekt zu schaffen, hinterfragt der Beitrag nicht. Über das Vorgehen der Forscher und die Technik selbst erfährt man wenig; auch die Einbindung in ein europäisches Projekt wird nicht ausreichend erläutert. Welche Länder insgesamt einbezogen werden, und auf welchen Zeitraum die Messungen angelegt sind, bleibt offen. Der Versuch einer sprachlich lockeren, originellen Darstellung überzeugt uns nicht.

Anmerkung: Dem Online-Text ist ein Video beigestellt, das den Beitrag illustriert, aber keine zusätzlichen Sachinformationen zum Forschungsprojekt liefert. Wir bewerten hier nur den Textbeitrag.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Der Beitrag beschreibt ein Forschungsprojekt, dessen Ziel es ist, den physiologischen Zustand eines Baumes fortwährend zu erfassen. Die Möglichkeiten, die daraus für die Wissenschaft erwachsen, werden sachlich, wenn auch nicht sehr detailliert beschrieben. Aufgebauscht wird das Thema allerdings durch die Aussage, hier werde „der erste twitternde Baum der Nation“ vorgestellt – siehe dazu Kriterien „Neuheit“ und „Faktentreue“. Risiken für den Baumbestand durch den Klimawandel werden benannt, aber nicht dramatisiert.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Zum Projekt werden nur sehr wenige Fakten genannt. Was genau an dem Twitter-Baum gemessen wird, bleibt vage. Welche „wichtigen Lebensdaten“ werden hier „ins Netz übertragen“? Es gibt – wenig überraschend – Sensoren, Kabel, Kabelbinder. Doch was sind das für Sensoren? Und was erfährt man aus ihren Werten in Echtzeit über den Zustand des Baumes, warum ist das wichtig? Außer dem Hinweis, dass der Durchmesser des Baumstamms schwankt, und dieser offenbar gemessen wird, erfahren Leserinnen und Leser kaum etwas über das Experiment und dessen Aussagekraft.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ/ INTERESSENKONFLIKTE: Die Quellen für Tatsachenbehauptungen und Einschätzungen werden benannt, Abhängigkeiten und Interessenlagen deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Mit der Wissenschaftlerin Tanja Sanders und dem Institutsleiter Andreas Bolte kommen zwei Vertreter des Thünen-Instituts zu Wort, die an dem Experiment beteiligt sind. Schön wären einige erläuternde Worte zum Thünen-Institut gewesen, das wohl den wenigsten Lesern bekannt sein dürfte. Besondere Interessenkonflikte sind hier unseres Wissens nicht zu erwähnen. Da eine unabhängige zweite Quelle fehlt, ist das Kriterium nicht erfüllt.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

In diesem Beitrag wird kein Umweltproblem, sondern ein Forschungsansatz vorgestellt. Zwar wäre es interessant gewesen die Sinnhaftigkeit des Twitter-Accounts zu hinterfragen. Doch das Forschungsprojekt selbst birgt keine offensichtlichen Kontroversen, daher wenden wir das Kriterium nicht an.

5. PRESSEMITTEILUNG Der Beitrag geht in seinem Informationsgehalt und in der Darstellungsweise deutlich über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus

Der wesentliche Inhalt des Textes – die Tatsache, dass hier ein Baum in Echtzeit vermessen wird, und daraus kontinuierlich Twitter-Nachrichten generiert werden ist der Pressemitteilung zu entnehmen. In einigen Punkten geht der Beitrag jedoch darüber hinaus, etwa mit Informationen zur unterschiedlichen Trockenresistenz von Baumarten und mit Zitaten der beteiligten Forscher. In anderen Punkte, etwa bei der Einordnung des Projekts in den europäischen Kontext und den Ausführungen zum Frühwarnsystem bei Extremwetterlagen, ist die Pressemitteilung indes deutlich informativer als der journalistische Beitrag.

6. NEUHEIT Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes beziehungsweise neu entdecktes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik oder einen neuartigen Vorschlag zur Lösung/ Regulierung o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Der Beitrag folgt kritiklos der Darstellung des Thünen-Instituts, dass hier erstmals ein „twitternder Baum“ in Deutschland vorgestellt werde (laut Pressemitteilung handelt es sich um den „ersten Baum in Deutschland im Netz“). Tatsächlich wurde schon vor Jahren über Bäume berichtet, die Twitter-Nachrichten versenden. Siehe etwa „Talking Tree: Erlanger Eiche twittert“, oder „Der Wald der twitternden Bäume“ (Link nicht mehr verfügbar). Auch andernorts gab es schon einen „Talking Tree“, oder „Connected Tree“ (Link nicht mehr verfügbar). Ob es sich bei den jetzt vorgestellten Messmethoden um neue Verfahren handelt, erfährt man in dem Artikel nicht.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Der Beitrag beschreibt knapp einen wissenschaftlichen Ansatz, mit dem der Effekt des Klimawandels auf Bäume erforscht werden soll. Es geht hier primär um die Sammlung und Verarbeitung von Messdaten, nicht um Lösungsmöglichkeiten für ein Umweltproblem. Daher wenden wir dieses Kriterium nicht an.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/ regional /global) wird dargestellt.

Es wird benannt, in welchen Ländern ähnliche Versuche laufen, „Ein halbes Dutzend Bäume twittern bisher in Belgien, einer in den Niederlanden“. Es gehe „um die Frage, was der Klimawandel mit den Wäldern in Deutschland und Europa macht.“ Allerdings geht der Beitrag dann nicht angemessen auf den europäischen Forschungsverbund ein. Da kaum anzunehmen ist, dass die Lage der europäischen Bäume anhand so weniger Messpunkte zu analysieren sein wird, wüsste man gerne, wie groß die Anzahl der in diesem Projekt kontinuierlich vermessenen Bäume werden soll, wo sie stehen und wie die Standorte ausgewählt werden. In der Pressemitteilung ist von einem „europaweiten Frühwarnsystem“ die Rede, das daraus erwachsen könnte – auch darauf geht der Beitrag nicht ein.
Regionale Unterschiede hierzulande werden zwar angesprochen, aber nicht ausreichend erklärt. Wie kann die Situation der deutschen Wälder anhand von nur zwei Bäumen – eine Kiefer im Norden, eine Fichte im Süden – analysiert werden? Wir vermissen Nachfragen dazu an die beteiligten Wissenschaftler und werten „knapp nicht erfüllt“.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Es bleibt offen, ob das Projekt nur für eine kurze Dauer angelegt ist, oder ob hier eine langfristige Beobachtung stattfinden soll. Wie lange die anderen Bäume bereits verkabelt sind, und wann das EU-Projekt gestartet ist, erfährt man nicht. Auch wird nicht klar, in welcher Weise die Daten anschließend ausgewertet werden. Ist z.B. geplant, auf dem gleichen Informationskanal künftig auch aggregierte Daten öffentlich zu machen?

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Das Forschungsprojekt wird in den allgemeinen Kontext des Klimawandels gestellt. Doch welche Relevanz das Twittern, das hier im Vordergrund steht, für die Forschung hat, bleibt unklar. Da kein wissenschaftlicher Nutzen der Twitter-Kommunikation beschrieben wird, liegt der Verdacht nahe, dass diese eher als PR-Gag anzusehen ist. Dann allerdings hätten wir erwartet, dass der Beitrag das hinterfragt, nicht zuletzt auch hinsichtlich der Finanzierung. Was kostet es, diese Nachrichten täglich aus den Messdaten zu generieren? Ist der Twitter-Account in ein umfassenderes Konzept eingebettet, das die Öffentlichkeit einbezieht und informiert? Wie werden Laien in die Lage versetzt, solche Daten zu interpretieren?
Zu den Kosten der Baumverkabelung ist nur vage von „ein paar tausend Euro“ die Rede, auch hier hätten wir gerne Genaueres erfahren.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Die Wirkungen des Klimawandels auf Bäume sind ein relevantes und dauerhaft aktuelles Thema. Die Beobachtungen der Forscher laufend im Internet zu publizieren ist eine durchaus ungewöhnliche Art des Umgangs mit der Öffentlichkeit (unabhängig von der Sinnhaftigkeit des Twitter-Projektes).

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Beitrag bemüht sich um eine launige Darstellung, doch wirkt vieles allzu manieriert. So ist nicht zu erkennen, warum der erste Absatz in Ich-Form verfasst ist – wird doch hier kein subjektiver Eindruck vermittelt, keine besondere individuelle Perspektive auf das Projekt eingenommen. Dass vor dem Balkon des Autors ein Ahorn wächst, und in der Nähe von „unserem Hauptstadtbüro“ Buchen und Eichen stehen, ist weder als Einstieg fesselnd noch für den nachfolgenden Inhalt relevant. Auch Anleihen beim Schreibstil mancher Blogger („sorry für diesen Spoiler!“), oder vermeintlich „jugendlicher“ Slang („das ist so 20. Jahrhundert!“) wirken eher befremdlich.
Insgesamt gehen über dem wenig gelungenen Versuch einer originellen Darstellung zu viele wesentliche Informationen zum vorgestellten Projekt verloren.
Auch hätten wir erwartet, dass ein Beitrag, der eine solche offenbar gut inszenierte PR-Idee einer Forschungseinrichtung aufgreift, sich in irgendeiner Form mit dem Verhältnis von wissenschaftlicher Relevanz und öffentlicher Darstellung auseinandersetzt.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Dies ist nicht der erste twitternde Baum, wie der Text behauptet. (siehe auch umweltjournalistisches Kriterium 6, Neuheit)
Anmerkung: Der Fehler wurde in einer späteren Fassung des Online-Beitrags korrigiert.

Umweltjournalistische Kriterien: 2 von 8 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 1 von 3 erfüllt

Abwertung um einen Stern wegen der Mängel in den allgemeinjournalistischen Kriterien.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar