Bewertet am 29. Januar 2016
Veröffentlicht von: Stuttgarter Zeitung

Ob und unter welchen Bedingungen es realistisch ist, mit Aufforstungen und anderen Maßnahmen das Treibhausgas CO2 in der Atmosphäre zu reduzieren, untersuchen zwei wissenschaftliche Publikationen, über die die Stuttgarter Zeitung berichtet. Der Artikel ist informativ, doch gelingt es kaum, die Ergebnisse beider Studien zueinander in Beziehung zu setzen.

Zusammenfassung

Die Stuttgarter Zeitung berichtet in sachlichem Ton über zwei aktuelle Studien, die sich mit der Rolle sogenannter Kohlenstoffsenken beschäftigen, die das Treibhausgas CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen. Die erste Untersuchung widmet sich speziell der Frage, welche Rolle große Wirbeltiere dabei spielen, Baumbestände im brasilianischen Regenwald zu stabilisieren. Die zweite Studie bewertet unterschiedliche Ansätze, der Atmosphäre langfristig das Treibhausgas Kohlendioxid zu entziehen (negative Emissionen). Demnach sind Aufforstungen von Wäldern oder die Nutzung von Biomasse wesentlich komplexer und womöglich weniger effektiv als von Einigen vermutet. Die Argumente für und gegen Aufforstung oder den Anbau von Biomasse mit dem Ziel der CO2-Bindung werden deutlich. Die beiden betrachteten wissenschaftlichen Untersuchungen haben allerdings nur eine relativ kleine inhaltliche Schnittmenge, die Zusammenführung in einem Artikel überzeugt nicht völlig. Über Umfang, Datenbasis, Methodik und Untersuchungszeitraum der beiden Studien erfährt man kaum etwas. Politische und wirtschaftliche Aspekte werden nur ganz knapp erwähnt.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

In sachlichem Ton berichtet der Artikel, dass die Hoffnung, den Klimawandel durch die Speicherung von Kohlendioxid in Wäldern oder andere „negative Emissionen“ zu begrenzen, trügerisch sein könnte. Kohlendioxid aus der Luft zu holen, könnte „die Maßnahmen gegen den Klimawandel zwar ergänzen – verlassen aber sollte man sich darauf nicht“, heißt es im Fazit. Der Beitrag fasst einige Ergebnisse der beiden Studien zusammen, um die Probleme aufzuzeigen. Dabei wird deutlich, dass die Zusammenhänge im Ökosystem Wald zu komplex sind, als dass Aufforstung eine „Wunderwaffe“ gegen den Klimawandel sein könnte. Auch der Ansatz, Energiepflanzen anzubauen und das bei der Verbrennung entstehende CO2 abzutrennen, wird kritisch beleuchtet. Da eine Einordnung in vorhandene Klimaschutzszenarien (siehe Kriterium 10) fehlt, fällt es dem Leser allerdings schwer, die Konsequenzen für den Klimaschutz zu bewerten.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

In groben Zügen werden die zentralen Aussagen der beiden Studien vorgestellt, wobei aus der zweiten Untersuchung nur die Abschnitte einbezogen werden, die sich mit der Aufforstung und dem Einsatz von Energiepflanzen auseinandersetzen. Die Argumentation der Wissenschaftler ist dabei insgesamt nachzuvollziehen. Doch über die Grundlagen dafür – über Datenbasis, Methodik und Untersuchungszeitraum – erfährt man fast nichts. Zur Studie über die  Rolle der großen Wirbeltiere in den Tropen heißt es lediglich, dass die Ergebnisse auf Computersimulationen beruhen. Dass als Datenbasis dabei umfangreiche Kartierungen von Baumbeständen dienten, bleibt unerwähnt. Zu den Daten und Methoden der zweiten wissenschaftlichen Publikation findet sich gar keine Aussage. Dass es sich dabei nicht um eine eigenständige Studie, sondern um einen „Review Article“ handelt, der eine Zusammenfassung bereits veröffentlichter Studien und Erkenntnisse darstellt, erfahren Leserinnen und Leser nicht.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Abhängigkeiten deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Der Artikel nennt die Hauptautoren der beiden zitierten Studien und die Forschungseinrichtungen, an denen sie arbeiten. Besondere Interessenkonflikte sind für uns nicht zu erkennen.
In einem Punkt verfehlt der Beitrag allerdings eine zentrale Anforderung dieses Kriteriums: Er nennt jeweils nur eine Quelle. Beide Untersuchungen haben jedoch so unterschiedliche Schwerpunkte, dass wir sie nicht als unabhängige Belege für eine einzige These werten können. Während die Studie zum brasilianischen Regenwald vor allem davor warnt, dass dort wichtige Baumarten als Kohlenstoffspeicher ausfallen könnten, wenn die großen Wirbeltierarten nicht geschützt werden, behandelt der Review Artikel eine ganze Reihe von aktiven Maßnahmen, um Kohlenstoffsenken zu schaffen oder zu vergrößern („Methoden für negative Emissionen“). Auch der befragte Wissenschaftler Felix Creutzig kommentiert nur die eigene Publikation.
Einordnende, kommentierende oder widersprechende Meinungen unbeteiligter Experten werden nicht präsentiert.

4. PRO UND CONTRA: Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

Im Artikel geht es um die kritische Überprüfung eines Streitpunkts in der Klimadebatte, ob nämlich Maßnahmen wie die Aufforstung von Wäldern oder die Nutzung von Biomasse die Erderwärmung wesentlich begrenzen könnten, indem der Atmosphäre CO2 entzogen wird. Dabei behandelt die Untersuchung zur Rolle großer Wirbeltiere in den brasilianischen Tropenwäldern für sich genommen kein kontroverses Thema, das Pro- und Contra-Argumente erfordern würde. Dagegen ist die aktive Erschließung und Ausweitung von Kohlenstoffsenken durchaus umstritten. Einige Contra-Argumente, wie etwa den Verbrauch von Wasser und Fläche, führt der Artikel auf. Als Pro-Argument wird etwas vage erklärt, dass Kohlenstoffsenken ergänzende Maßnahmen sein könnten, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Dabei vermissen wir einen Hinweis auf den jüngsten Bericht des Weltklimarats (IPCC), der auch die Rolle der Kohlenstoffsenken einbezieht. Insgesamt werten wir „knapp erfüllt“. 

5. PRESSEMITTEILUNG: Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung / das Pressematerial hinaus.

Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilungen hinaus. Einige Informationen aus den wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind eingearbeitet. Ergänzend kommt einer der der Autoren des Review-Artikels zu Wort.

6. ALT oder NEU: Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Der Artikel lässt Leserinnen und  Leser im Unklaren darüber, ob es zur Frage, inwiefern Wälder oder Biomassenutzung bei der Bekämpfung des Klimawandels eine Rolle spielen könnten, bereits früher Untersuchungen gegeben hat. Tatsächlich gibt es dazu eine Vielzahl wissenschaftlicher  Publikationen (in jüngerer Zeit z.B. diese oder diese). Für keine der beiden im Artikel angeführten Studien finden sich Informationen darüber, welche Erkenntnisse dazu bisher vorlagen (und z.B. in den IPCC-Bericht eingingen) und was die Untersuchungen, über die hier berichtet wird, Neues beitragen.

7. LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN / kein „Greenwashing“: Der Beitrag nennt Wege, um ein Umweltproblem zu lösen, soweit dies möglich und angebracht ist.

Der Artikel deutet die Handlungsoptionen für die in den beiden Studien aufgeworfenen Probleme zumindest an, auch wenn er dabei relativ vage bleibt. Für die Rolle von großen Wirbeltieren für den brasilianischen Regenwald drängt sich die Möglichkeit auf, die aufgeführten negativen Einflüsse auf die Tierbestände (Wilderei, Zerstörung des Lebensraums) zurückzudrängen. Für die Maßnahmen, die negative Emissionen bewirken sollen, werden zumindest tendenziell weniger problematische Optionen („wärmere Gebiete aufforsten“) genannt. Bei der übergreifenden Frage, ob solche Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels Erfolg versprechend sind, wird die Argumentation der dargestellten Studien deutlich, dass diese jedenfalls kein Ersatz für Maßnahmen zur Reduktion von Kohlendioxidemissionen sein können.

8. RÄUMLICHE DIMENSION (lokal / regional / global): Die räumlichen Dimensionen eines Umweltthemas werden dargestellt.

Der Artikel macht deutlich, mit welchen Gebieten sich die Wissenschaftler in ihren Studien beschäftigt haben, und wie unterschiedlich die Erfolgsaussichten „negativer Emissionen“ je nach räumlicher Lage zu bewerten sind. Konkret werden die Verhältnisse in den Tropen, im Mittelmeerraum und in borealen Zonen angesprochen.
Der Artikel stellt korrekt dar, dass sich die Untersuchung zur Verbreitung großer Baumarten durch Tiere auf den Atlantischen Regenwald Brasiliens bezieht. Dabei wird angedeutet, dass sich die Ergebnisse wohl auf andere Tropenwälder übertragen lassen.
Der zweite Teil des Artikels geht auf regional unterschiedliche Herausforderungen bei Aufforstungen und Biomasseanbau ein. So wird dargestellt, dass die Wasserknappheit rund um das Mittelmeer eine Hürde für die Aufforstung darstellt, während in subpolaren Gebieten die unterschiedliche Rückstrahlung von Schneeflächen und Waldgebieten zu beachten ist.

9. ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit): Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

Die zeitliche Dimension wird in diesem Artikel vernachlässigt. So wird weder klar, in welchen Zeiträumen sich der tropische Baumbestand verändert, wenn große Wirbeltierarten dezimiert werden, noch wie weit dieser Prozess im brasilianischen Regenwald schon fortgeschritten ist, und wie viel Zeit nötig wäre, um ihn umzukehren. Wie schnell würden neue Bäume wachsen und wann wären dann Effekte gegen den Klimawandel zu erwarten?

Auch bei der Betrachtung der Methoden für den Ausbau von Kohlenstoffsenken fehlt jede zeitliche Einordnung. Aus dem Beitrag wird nicht klar, wie schnell und in welchem Umfang solche Senken geschaffen werden müssen, um wesentlich dazu beizutragen, dass das  2-Grad-Ziel erreicht wird. Ebenso wenig erfahren Leserinnen und Leser, wie viele solcher Projekte schon umgesetzt oder für welche Zeiträume sie geplant sind.

10. KONTEXT / KOSTEN: Es werden politische, soziale oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Der Artikel stellt die Bedeutung der dargestellten Studien in den politischen Kontext der Klimakonferenz von Paris, wobei allerdings eine genauere Einordnung in die aktuelle Klimaschutzdebatte fehlt. Am Anfang des Artikels wird zwar das 2-Grad-Ziel erwähnt. Welche Rolle dabei Kohlenstoffsenken allgemein oder Aufforstung und Energiepflanzen im Besonderen spielen, bleibt aber unklar. Informationen dazu wären in den zitierten Studien zu finden gewesen. So heißt es in der Zusammenfassung am Anfang des Review Artikels: “To have a >50% chance of limiting warming below 2 °C, most recent scenarios from integrated assessment models (IAMs) require large-scale deployment of negative emissions technologies.”
Der Artikel erwähnt die gesellschaftlichen Auswirkungen der beschriebenen Maßnahmen an einigen Stellen an, ohne sie jedoch zu quantifizieren. So wird erläutert, dass die Methoden für den Ausbau von Kohlenstoffsenken in Konkurrenz zur anderweitigen Nutzung von Wasser, Land und Nahrungspflanzen stehen. Über die Kosten schweigt sich der Beitrag allerdings aus. Das ist umso bedauerlicher, als eine der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Studien dazu konkrete Vergleiche anstellt. Politische und wirtschaftliche Überlegungen, die für oder gegen Aufforstung oder den Anbau von Energiepflanzen sprechen, werden im Zeitungsartikel nicht beschrieben. Auch hier liefert die Studie zum Beispiel Zahlen zur Energiebilanz. Wir werten deshalb nur „knapp erfüllt“.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. THEMENAUSWAHL: Das Thema ist aktuell, oder auch unabhängig von aktuellen Anlässen relevant oder originell.

Der Artikel erschien kurz nach dem Klimagipfel der Vereinten Nationen in Paris, bei dem ein ambitioniertes Klimaschutzabkommen beschlossen wurde. Dies ist ein guter Zeitpunkt, um die Hintergründe konkreter Klimaschutzmaßnahmen zu beleuchten und Probleme bei der Umsetzung aufzuzeigen. Der Beitrag berichtet über zwei aktuelle Studien, die kurz zuvor veröffentlicht worden sind. Mit der Problematik von Kohlenstoffsenken greift er einen Aspekt der Klimadebatte auf, über den eher seltener berichtet wird.

2. VERMITTLUNG: Komplexe Umweltzusammenhänge werden verständlich gemacht.

Der Artikel ist klar strukturiert und sprachlich verständlich, in der Darstellung allerdings eher trocken – eine Story, lebendige oder kontrastierende Elemente fehlen. Die beiden betrachteten wissenschaftlichen Untersuchungen haben nur eine relativ kleine inhaltliche Schnittmenge, deren Zusammenführung in einem Artikel gelingt nicht sehr überzeugend: Der erste Teil erklärt, warum der tropische Regenwald in Zukunft weniger Kohlenstoff speichern könnte, da große Wirbeltiere, die Baumsamen verbreiten, seltener werden; der zweite Teil befasst sich mit Aufforstungen und dem Einsatz von Energiepflanzen auf dem Acker. Zusammen ergeben die Teile in unseren Augen kein schlüssiges Gesamtbild, ein Spannungsbogen fehlt. Die Fragestellung der Überschrift „Wann schonen Wälder das Klima?“ wird nicht klar beantwortet. Da der Beitrag ansonsten aber informativ und verständlich ist, werten wir das Kriterium noch als erfüllt.

3. FAKTENTREUE: Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder.

Uns sind keine Faktenfehler aufgefallen, jedoch eine kleine Ungenauigkeit. Im Artikel heißt es: „Erst wenn ein Baum stirbt oder der Wald gerodet wird, gelangt das Kohlendioxid wieder in die Luft.“ Dies stimmt im Fall der Rodung so nicht, denn erst wenn der Baum verrottet oder verbrannt wird, geschieht dies. Wird er hingegen als Bau- oder Möbelholz genutzt, bleibt der Kohlenstoff gebunden. Das erfahren Leserinnen und Leser aber erst im begleitenden Infokasten.

Umweltjournalistische Kriterien: 6 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar