Bewertet am 7. September 2015
Veröffentlicht von: ARD

Der TV-Beitrag in der ARD-Sendung „report“ zeigt auf, wie Lobbyaktivitäten die Regulierung hormonell wirksamer Chemikalien in der EU beeinflussen und verzögern. Was über die toxikologische Wirkung solcher Chemikalien bekannt ist, kommt gegenüber einem suggestiven Fallbeispiel zu kurz.

Zusammenfassung

„report München“ berichtet darüber, wie Lobbyisten in der EU Einfluss auf die Regulierung schädlicher hormonähnlich wirkender Chemikalien – sogenannter endokriner Disruptoren – nehmen und die Gesetzgebung verzögern. Der TV-Beitrag zieht viele Quellen heran und liefert einen guten Überblick über dieses seit Jahren schwelende politische Thema. Der konkrete Anlass für den Bericht bleibt dabei offen bzw. ist durch den Zugang zu vertraulichen Dokumenten selbst gesetzt; nicht alle Fakten werden ausreichend zeitlich eingeordnet.

Der wesentliche Schwachpunkt des Beitrags ist indes das als Rahmenhandlung gewählte Fallbeispiel, das relativ großen Raum einnimmt. Die Erkrankung einer jungen Frau an Endometriose wird mit hormonell wirksamen Chemikalien in der Umwelt in Verbindung gebracht, ohne dass dafür ausreichend Belege angeführt werden. Warum ausgerechnet dieses Beispiel gewählt wurde, ist nicht nachvollziehbar. Wir finden es auch deshalb problematisch, weil eine solche emtionale Geschichte wahrscheinlich mindestens so stark im Gedächtnis der Zuschauer haften bleibt, wie die eigentliche Story, und weil das Fallbeispiel unserer Sicht der Glaubwürdigkeit des ansonsten gut recherchierten Beitrags schadet.

Insgesamt bleibt der TV-Bericht vage, wenn es um die konkreten Risiken durch die genannten Chemikalien geht. Auch in einem Beitrag, der eindeutig einen politischen Schwerpunkt hat, hätten wir uns ein paar genauere Angaben dazu gewünscht, was man über die schädliche Wirkung der betreffenden Substanzen in der Umwelt weiß und welche Hinweise für Gesundheitsschäden beim Menschen es gibt. Hinzu kommt ein Faktenfehler in der Anmoderation.

Hinweis: Der Originalbeitrag ist online nicht mehr verfügbar. 

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Der Fernsehbeitrag befasst sich mit Weichmachern und anderen Chemikalien, die eine hormonähnliche Wirkung haben können. Anhand eines Fallbeispiels wird die Fruchtbarkeitsstörung durch Endometriose bei einer jungen Frau als mögliche Folge dieser Umweltchemikalien herausgestellt. Zwar gibt es eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass diese die Fortpflanzung von Menschen und Tieren stören können. So warnen die Weltgesundheitsorganisation und das UN-Umweltprogramms Unep in einem auch im Beitrag zitierten Bericht von 2012  vor einer Verminderung der Zeugungsfähigkeit von Männern und Störungen der Eierstöcke bei Frauen. Das Risiko einer Endometriose wird darin jedoch nicht genannt. Zu der Frage, ob hormonell wirksame Chemikalien Endometriose verursachen können, ist die Studienlage sehr unklar. Warum im Filmbeitrag trotzdem ausgerechnet diese Erkrankung gewählt wird, bleibt somit unverständlich. Zwar wird gesagt, dass die Schädigung durch Umweltchemikalien nur vermutet wird (Sprechertext zur Vermutung des behandelnden Arztes: „Beweisen kann er es nicht“). Dennoch entsteht in den emotional berührenden Filmsequenzen der Eindruck, dass der Zusammenhang sehr wahrscheinlich sei. Diese dramatisierende Darstellung finden wir problematisch.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Für das gewählte prominent dargestellte Fallbeispiel fehlen alle Belege, die die Darstellung stützen könnten, die Erkrankung der Patientin sei auf hormonähnliche Chemikalien zurückzuführen. Wie wahrscheinlich dies ist, wird nicht erläutert. Lediglich die Vermutung eines Arztes wird, ohne Bezug auf konkrete Forschungsarbeiten, als Beleg angeführt.
Im weiteren Verlauf schildert der Beitrag die Debatte über den bisher gescheiterten Regelungsversuch für diese Chemikaliengruppen dagegen gut nachvollziehbar und stützt sich dabei auf Materialien der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit Efsa, der Nicht-Regierungsorganisation Corporate Europe Observatory, und auf die erwähnte WHO/Unep-Studie sowie die Faktendarstellung durch mehrere Experten. Dabei hätte allerdings besser dargelegt werden können, welche Bedeutung das Thema für die Gesundheit der Bürger in Europa hat. Gibt es Schätzungen zum Umfang möglicher Schäden?
Wegen der groben Mängel bei der Darstellung der Gesundheitsrisiken, insbesondere beim Fallbeispiel, das im Beitrag großen Raum einnimmt, werten wir „knapp nicht erfüllt“.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Abhängigkeiten deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Der Beitrag zieht unterschiedliche Quellen und Experten heran. So wurde mit dem Wissenschaftler Andreas Kortenkamp gesprochen, der für die EU-Kommission eine Studie als Basis für einen Regulierungsvorschlag erstellt hat. Eine Vertreterin der Brüsseler Nicht-Regierungsorganisation Corporate Europe Observatory, die eine Dokumentation über die Strategien der Chemielobby gegen einen Regelungsversuch auf europäischer Ebene vorgelegt hat, und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen kommen zu  Wort; befragt wird auch der EU-Kommissar für Gesundheit. Ferner wird aus anonymisierten Emails von Experten zitiert. Die europäische Kunststoffindustrie ist nur über ein internes Papier in Form einer Vortragspräsentation einbezogen, da sich die Lobbyorganisation PlasticsEurope laut Beitrag einem Gespräch vor der Kamera verweigert hat, das Papier aber nicht dementiert. Die Quellen sind klar zugeordnet, so dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sie einschätzen können. Etwas genauere Informationen hätten wir uns allerdings zur Nichtregierungsorganisation „Corporate Europe Observatory“, gewünscht, die nur kurz als „Lobbybeobachter“ eingeführt wird.

4. PRO UND CONTRA: Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

Der Fernsehbeitrag stellt die wesentlichen Positionen vor: Der zuständige Kommissar vertritt die offizielle Linie der EU-Kommission, als Kritiker kommen ein Experte der Grünen und die Vertreterin einer NGO zu Wort, außerdem ein kritischer Wissenschaftler. Dass die Industrieposition nur vermittelt einbezogen ist, kann dem Beitrag nicht angelastet werden, weil die angefragten Industrievertreter offenbar nicht vor die Kamera wollten. Gut wäre es allerdings gewesen, jemanden aus dem Kreise der Herausgeber toxikologischer Zeitschriften zu befragen, die sich offenbar in einer konzertierten Aktion im Sinne der Industrie zum Thema zu Wort gemeldet hatten, oder zumindest deren Argumente zu nennen.

5. PRESSEMITTEILUNG: Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung / das Pressematerial hinaus.

Der TV-Beitrag beschreibt das Thema anhand eines Fallbeispiels. Er stützt sich auf O-Töne mehrerer Experten, zitiert aus schriftlichen Quellen und befragt den EU-Gesundheitskommissar – daher eindeutig erfüllt.

6. ALT oder NEU: Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Der Beitrag beschreibt, dass das EU-Parlament bereits 2009 den Umgang mit hormonell wirksamen Chemikalien einschränken wollte, dass bis 2013 dazu eine Regelung erfolgen sollte, und dass dies bis heute nicht geschehen ist. Dass bereits mindestens seit Mitte der 1990er Jahre über die Risiken hormonähnlicher Umweltchemikalien diskutiert und geforscht wird, erwähnt der Beitrag jedoch nicht. Auch der Stand der Dinge bei der Europäischen Chemikalienagentur ECHA z.B. hinsichtlich der Regulierung von Bisphenol A bleibt unerwähnt, obwohl es hierzu in den letzten Jahren wichtige Auseinandersetzungen gab . Dass die kritisierte Stellungnahme der Zeitschriftenherausgeber bereits 2013 erschienen ist, erfahren Zuschauerinnen und Zuschauer ebenfalls nicht. Insgesamt bleibt vage, wie neu die Informationen, die der Beitrag liefert, jeweils sind.

7. LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN / kein „Greenwashing“: Der Beitrag nennt Wege, um ein Umweltproblem zu lösen, soweit dies möglich und angebracht ist.

Es geht vor allem um eine mögliche Regulierung der hormonell wirksamen Chemikalien in Europa. Damit steht ein Lösungsvorschlag im Mittelpunkt des Beitrags. Allerdings geht er dabei nicht ins Detail, wie diese Regulierung aussehen könnte und welche Vorschläge dazu auf dem Tisch liegen. Auch die Grundsatzdebatte, wie angesichts widersprüchlicher wissenschaftlicher Studien zu verfahren ist, also über das  Vorsorgeprinzip, wird nicht näher berichtet. Es fehlen auch Informationen darüber, ob es für Verbraucherinnen und Verbraucher Möglichkeiten gibt, die Belastung mit hormonell wirksamen Chemikalien zu verringern. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

8. RÄUMLICHE DIMENSION (lokal / regional / global): Die räumlichen Dimensionen eines Umweltthemas werden dargestellt.

Hormonell wirksame Chemikalien gibt es überall im Alltag, es handelt sich um ein weltweites Problem. Dieses Faktum wird erwähnt, über die Bildebene werden auch Beispiele angeführt. Deutlich wird, dass der Beitrag über politische Prozesse innerhalb der EU berichtet. Allerdings werden die unterschiedlichen Sichtweisen in den EU-Ländern (z.B. die Vorstöße Frankreichs hinsichtlich der Regulierung von Bisphenol A) nicht erwähnt. Zusätzlich interessant wäre der Vergleich mit anderen Ländern gewesen – welche Regulierungen gibt es z.B. in den USA? Wir werten „knapp erfüllt“.

9. ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit): Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

Berichtet wird über die Verzögerungen bei der Regulierung hormonell wirksamer Chemikalien. Allerding sind die zeitlichen Abläufe nicht immer ganz nachvollziehbar (siehe auch Kriterium 6). Ansonsten fehlt die zeitliche Dimension an vielen Stellen. Weder wird berichtet, wie langlebig die fraglichen Chemikalien sind, noch wird eine mögliche Anreicherung in der Umwelt oder in Organismen angesprochen; die komplexe Wirkungsweise und mögliche Wechselwirkungen der vielen verschiedenen Chemikalien kommen in dem Beitrag nicht vor. Wann würde eine Beschränkung überhaupt wirksam werden? Dass Schäden durch diese Chemikalien z.T. erst nach Jahren eintreten können, was die Testverfahren sehr aufwändig macht, erfährt man ebenfalls nicht. Auch wenn sicher nicht alle diese Punkte ausgeführt werden können, wäre es doch wichtig gewesen, zumindest exemplarisch solche Aspekte einzubeziehen.

10. KONTEXT / KOSTEN: Es werden politische, soziale oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Im Zentrum des Beitrags stehen die politischen Prozesse einer Regulierung hormonell wirksamer Chemikalien in der EU. Die politische Auseinandersetzung darum wird hinreichend deutlich, etwa durch Äußerungen des EU-Kommissars für Gesundheit, der Vertreterin einer NGO und eines wissenschaftlichen Mitarbeiters der Grünen. Der soziale Kontext wird mit dem, wenngleich – wie erläutert – aus unserer Sicht  missglückten, Beispiel einer Frau mit Endometriose hergestellt.
Im Beitrag wird berichtet, dass es wirtschaftliche Interessen gibt, die einer Regulierung der umstrittenen Chemikalien entgegenstehen. Allerdings fehlen hierzu jegliche Zahlenangaben – um welche finanziellen Dimensionen geht es hier, wie bedeutsam sind diese Chemikalien? Wie viel Geld spart die Industrie schätzungsweise, wenn Regulierungen erst einige Jahre später einsetzen? Dazu hätten wir einige konkretere Informationen erwartet. Bisphenol A zum Beispiel ist eine der Chemikalien mit dem größten Produktionsvolumen weltweit. Ob und wie solche Substanzen ganz oder in bestimmten Einsatzbereichen zu ersetzen sind, und welche wirtschaftlichen Folgen dies möglicherweise hätte, wird nicht thematisiert. Wir werten „knapp erfüllt“.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. THEMENAUSWAHL: Das Thema ist aktuell, oder auch unabhängig von aktuellen Anlässen relevant oder originell.

Ein aktueller Anlass, die seit langem andauernde politische und wissenschaftliche Debatte um hormonell wirksame Chemikalien aufzugreifen, ist im Beitrag nicht erkennbar. Dies liegt aber bei investigativen Beiträgen, die ihre eigene Aktualität setzen, ein Stück weit in der Natur der Sache. Zudem ist das Thema latent aktuell, sind doch solche Substanzen in vielen Alltagsgegenständen enthalten und in der Umwelt weit verbreitet. Es gibt viele Hinweise auf Gesundheitsrisiken und immer wieder Vorstöße für eine Regulierung in der EU. Das Thema ist daher auch unabhängig vom tagesaktuellen Anlass dauerhaft relevant.

2. VERMITTLUNG: Komplexe Umweltzusammenhänge werden verständlich gemacht.

Der interessante und gut verständliche Bericht über die Vorgänge in der EU wird eingerahmt durch ein Fallbeispiel, das uns nicht geeignet erscheint (siehe umweltjournalistisches Kriterium 2). Es suggeriert Zusammenhänge, die so nicht zu belegen sind. Damit wird die Glaubwürdigkeit des ansonsten gut recherchierten Berichts in Frage gestellt. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

3. FAKTENTREUE: Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder.

Bisphenol A ist nicht, wie hier behauptet, ein Weichmacher, sondern ein Plastikgrundstoff („Monomer“), u.a. für die Produktion von Polycarbonat und Kunstharzen. Er taucht lediglich in geringem Umfang als Komponente in Antioxidanz-Zubereitungen für Weich-PVC auf. Da dieser Fehler lediglich in der Anmoderation vorkommt, werten wir noch „knapp erfüllt“.

Umweltjournalistische Kriterien: 6 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar