Bewertet am 23. Juni 2015
Veröffentlicht von: Spiegel Online

Dass tausende heimische Arten vor allem durch die intensive Landwirtschaft in ihrem Bestand gefährdet sind, ist einem Bericht des Bundesamts für Naturschutz zu entnehmen. Spiegel Online berichtet aktuell, allerdings ohne die Kontroverse zu diesem Punkt aufzugreifen. Erkenntnisse zum Einfluss des Klimawandels werden irreführend dargestellt.

Zusammenfassung

Spiegel Online berichtet über den ersten vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) vorgelegten umfassenden Artenschutzreport. Dabei wird eine Meldung der dpa verwendet, die sich wiederum an einer Pressemitteilung des BfN orientiert. Der Rückgang vieler Arten wird sachlich und mit etlichen Zahlen belegt dargestellt. Daneben berichtet der Text auch über einige Arten, deren Bestände sich erholt haben, und führt Handlungsansätze für den Artenschutz auf. Als ein wichtiger Faktor für den Rückgang der biologischen Vielfalt wird die Intensivlandwirtschaft benannt. Der Beitrag versäumt es indes, zu diesem Punkt auch eine Stellungnahme der Landwirte einzuholen.
Über den dpa-Text hinaus bezieht der Online-Beitrag knapp eine aktuelle Publikation der Senckenberg-Gesellschaft ein. Von dieser heißt es, sie belege, dass der Klimawandel kaum eine Rolle beim Verlust von Arten in Deutschland spiele. Indes ist diese Untersuchung nicht geeignet, eine solche Aussage zu belegen. Zwar umfasst diese Passage nur einen Satz im Beitrag, doch ist dieser für Leserinnen und Leser grob irreführend.
Auch sonst fehlt es in dem Online-Text an räumlicher Orientierung: Ob die Probleme in anderen Ländern ähnlich liegen, oder welche Unterschiede bestehen, erläutert er nicht; der zugleich erschienene Umweltbericht der EU-Kommission und der Europäischen Umweltagentur (EEA), der Vergleichszahlen liefern könnte, wird nicht erwähnt.  

Anmerkung: Der bewertete Artikel, der innerhalb der Stichprobe an Medien zufällig ausgesucht wurde, ist ein dpa-Text, der von einem unserer Gutachter bearbeitet wurde. Für die Begutachtung eines Beitrags erhalten die Gutachter indes eine anonymisierte Version und wissen daher nicht, wer Autor bzw. Autorin eines Artikels ist, oder aus welchem Medium ein Beitrag stammt.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Online-Beitrag stellt in einem nachrichtlich gehaltenen Text den ersten vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) vorgelegten umfassenden Artenschutzreport vor. Er referiert dazu zahlreiche Beispiele aus dem BfN-Bericht für den Artenrückgang, aber auch für Erfolge des Artenschutzes. Es wird berichtet, dass vor allem die intensive Landwirtschaft die Lebensräume einer Vielzahl von Tier-, Pflanzen- und Pilzarten gefährdet.
Der Beitrag erwähnt – wenn auch nur in einem Satz – eine Studie der Senckenberg-Gesellschaft und führt diese als Beleg dafür an, dass der Klimawandel kaum eine Rolle beim Verlust der Arten in Deutschland spiele. Das allerdings kann aus der Studie, die ein Flussgebiet in Südostchina untersuchte, nicht gefolgert werden (siehe dazu allgemeinjournalistisches Kriterium 3, Faktentreue). Insofern gibt es hier eine gewisse Tendenz zur Verharmlosung des Klimawandels als Faktor, der die Artenvielfalt beeinflusst.
Da dies jedoch nur ein Randaspekt im Beitrag ist, werten wir noch „knapp erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Die wesentlichen Angaben zum Artenrückgang bzw. zu Erfolgen des Artenschutzes werden zutreffend aus dem BfN-Report bzw. der Pressemitteilung des BfN zitiert. Die Aussage zum zu vernachlässigenden Einfluss des Klimawandels ist dagegen nicht ausreichend belegt, da die hier angeführte Studie sich mit der Frage des Artenrückgangs in Deutschland gar nicht befasst hat. Ob und inwiefern Erkenntnisse, die durch Modellierung eines chinesischen Flussgebiets gewonnen wurden, auf die hiesigen Verhältnisse übertragbar sind, wäre zumindest erklärungsbedürftig. Dass der BfN-Report hierzu andere Aussagen trifft und den Klimawandel z.B. als „zusätzlichen Stressor“ (S. 22) und „Gefährdungsursache“ (S. 23) benennt, wird im Beitrag nicht erwähnt. Auf die Passagen im BfN-Report, die differenziert die Auswirkungen des Klimawandels auf die Arten in Deutschland beschreiben (S. 23 , S. 46 f.), nimmt der Beitrag keinen Bezug.
Wir werten daher „knapp nicht erfüllt“.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Das Bundesamt für Naturschutz, dessen Präsidentin Beate Jessel und der Sprecher des BfN werden als Quellen benannt. Das BfN ist als wissenschaftliche Bundesbehörde öffentlich finanziert, die Senckenberg-Gesellschaft wird als Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft ebenfalls großteils öffentlich finanziert. Interessenkonflikte, die hier zu berücksichtigen wären, können wir nicht erkennen. Formal ist mit der Senckenberg-Studie auch die Forderung nach einer zweiten Quelle erfüllt (zu unserer diesbezüglichen Kritik siehe umweltjournalistische Kriterium 3, Belege, und allgemeinjournalistisches Kriterium 3, Faktentreue ). Die verwendete dpa-Meldung bezieht mit den Kommentaren verschiedener Umweltverbände eine Reihe weiterer Quellen ein, die jedoch im hier bewerteten Beitrag nicht zu Wort kommen.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Die Position des BfN zur Rolle der Landwirtschaft beim Verlust von Arten und Lebensräumen ist ausführlich dargestellt, so heißt es z.B.: „Die intensive Landwirtschaft stehe bei den Ursachen für den Niedergang an vorderster Stelle“. Der Bauernverband, der in anderen Medien unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts zitiert wurde, ist in dem Text dagegen nicht erwähnt (z.B. hier). Da es sich hier offensichtlich um ein kontroverses Thema handelt, wäre es notwendig gewesen, die Position des Bauernverbandes oder einer anderen landwirtschaftlichen Interessenvertretung zumindest kurz anzusprechen. Das würde ebenso für die Waldbesitzerverbände gelten, wäre im Text die Rolle der Wälder erwähnt worden, die im BfN-Report einen großen Raum einnimmt.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Beitrag verwendet die Pressemitteilung des BfN und gibt z.B. Zitate der BfN-Präsidentin Beate Jessel daraus wieder; auch etliche weitere Passagen wurden aus dem Pressematerial übernommen. Darüber hinaus wurde offenbar ein Gespräch mit dem BfN-Sprecher Franz August geführt, der im Beitrag ebenfalls zitiert wird. Wir werten daher „knapp erfüllt“.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es wird klar, dass erstmals ein so umfassender offizieller Bericht zum Artenschutz in Deutschland vorgelegt wurde. Dass viele Arten nicht erst seit kurzem gefährdet sind, wird indes nur an einem einzigen Satz erwähnt („Feldvögeln wie Kiebitz und Feldlerche gehe es seit 20, 30 Jahren kontinuierlich schlechter“). Ansonsten fehlen Zeitbezüge im Text weitgehend. Wir werten „knapp erfüllt“.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Ackerrandstreifen und ein Verbot des Grünlandumbruchs, die das BfN fordert, sind im Text genannt, ebenso Umschichtungen bei der Agrarförderung. Auch wird auf eine stärkere Vernetzung von Schutzgebieten als Handlungsoption verwiesen. Nähere Erläuterungen dazu liefert der Beitrag nicht, doch im Rahmen eines solchen eher nachrichtlichen als analytischen Textes werten wir die genannten Beispiele als ausreichend.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/ regional /global) wird dargestellt.

Der Beitrag bezieht sich auf die Situation in Deutschland. Dass dieses durch seine Lage in der Mitte Europas Teil eines größeren Betrachtungsraums ist, kommt in dem Text nicht vor. Auch sonst fehlt jeder Vergleich mit anderen Regionen – ist der Artenrückgang in Deutschland typisch für Mitteleuropa, gravierender oder geringer als in den Nachbarländern? Im BfN-Bericht wird dagegen mehrfach auf ähnliche und abweichende Situationen in den europäischen Nachbarstaaten verwiesen (z.B. S. 13). Auch die räumlichen Unterschiede in Deutschland kommen im Online-Beitrag nicht vor. Die vielfachen Bezüge des BfN-Berichts auf europäische Richtlinien und Zusammenhänge werden nicht aufgegriffen.
Hinzu kommt der Lapsus mit der Studie aus China, die ohne entsprechenden Hinweis auf die Situation in Deutschland bezogen wird.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Zeitliche Bezüge fehlen im Text fast völlig. Seit wann ist der beschriebene Verlust der biologischen Vielfalt zu beobachten? Auf welchen Zeitpunkt in der Vergangenheit bezieht sich die Aussage, dass bereits 4 Prozent der Arten in Deutschland ausgestorben sind? Seit wann ist die Rückkehr von Wolf und Biber zu beobachten? Die einzige (und eher vage) Angabe zu den Feldvögeln genügt für die zeitliche Einordnung des Artenrückgangs in Deutschland nicht, zumal dem BfN-Bericht genauere Angaben zu entnehmen sind.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Keine dieser Dimensionen kommt in dem Text vor, obwohl diese unter der Fragestellung „Warum ist Artenvielfalt wichtig?“ im BfN-Report dargestellt sind. So wird dort die wirtschaftliche Bedeutung der Biodiversität ausgeführt (S. 8 ff. „Arten sind die Grundlage unserer Ernährung und wichtige Rohstoffe. Sie sorgen in intakten Ökosystemen unter anderem für saubere Luft und Wasser, Hochwasserschutz, Nitratabbau, Kohlenstofffixierung sowie Erosionsschutz und sind Vorbilder für technische Innovationen“), und auch ethische und ideelle Gründe, die für den Artenschutz sprechen, werden in BfN-Bericht angesprochen (S. 10 f.). Auf der politischen Ebene wäre es interessant gewesen, den EU-Bericht zum Thema mit heranzuziehen, der am gleichen Tag veröffentlicht wurde. (Von der dpa gab es zusätzlich zu der hier verwendeten Meldung auch einen Text, der neben dem BfN-Report auch den EU-Umweltbericht mit einbezieht.)

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Der Beitrag ist durch die Veröffentlichung des Artenschutzberichtes aktuell, das Thema Erhalt der biologischen Vielfalt ist ein dauerhaft relevantes Thema.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Text ist zwar verständlich geschrieben und fasst die wichtigsten Fakten aus dem BfN-Bericht in knapper, nachrichtlicher Form zusammen. Besondere Anreize zum Lesen bietet er dabei aber nicht. Sperrig wirkt insbesondere, dass ein Großteil in indirekter Rede verfasst ist. Wir werten „knapp erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Die Darstellung der Senckenberg-Studie ist fehlerhaft. Es wird der Eindruck erweckt, dass hier eine Studie belege, der Klimawandel habe in Deutschland kaum einen Einfluss auf die Artenvielfalt. Dabei fehlt sowohl die Information, dass es sich um die Modellierung von Verhältnissen in Südchina handelt, als auch die Einschränkung, dass ausschließlich die Wirkung auf Organismen in Fließgewässern betrachtet wurde. Die Forscher dieser Studie kommen zu dem Schluss, dass hier der Einfluss von Veränderungen in der Landnutzung den (gleichwohl vorhandenen) Effekt des Klimawandels überwiegt. Die Darstellung im Online-Beitrag ist grob irrführend. (Hinweis: Unsere Gutachten bezieht sich auf die ursprüngliche Fassung des Artikels; in einer späteren Version wurde dieser Faktenfehler korrigiert.)

Umweltjournalistische Kriterien: 5 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Wegen mehrerer „knapp erfüllter“ Kriterien werten wir um einen Stern ab.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar