Bewertet am 18. Dezember 2014
Veröffentlicht von: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung greift eine aktuelle Studie auf, die berichtet, wie stark sich die Zahl der Vögel in Europa in den letzten Jahrzehnten verringert hat. Hintergrundinformationen zu Ursachen und Folgen dieser Entwicklung liefert der Beitrag nicht. Die Bestandsentwicklung in Deutschland wird nicht angesprochen, obwohl das Bundesamt für Naturschutz hierzu erst kürzlich einen Bericht vorgelegt hatte.

Zusammenfassung

Der Artikel beschäftigt sich mit einem wichtigen und interessanten Thema: Die Zahl der Vögel in Europa hat sich einer internationalen Studie zufolge in den vergangenen 30 Jahren deutlich verringert. Es wird erläutert, dass vor allem häufige Arten stark dezimiert wurden, während sich einige seltene Arten erholt haben. In der Überschrift des Beitrags wird die Frage nach den Ursachen gestellt, doch fehlen im weiteren Verlauf des Artikels jegliche Ausführungen dazu. Obwohl aktuelle Informationen aus Deutschland zu diesem Thema vorliegen, greift der Beitrag diese nicht auf, ebenso wenig werden Handlungsmöglichkeiten beim Vogelschutz thematisiert. Stattdessen beschäftigt sich der Artikel im zweiten Teil mit einer Studie zur Bestandsentwicklung einiger Vogelarten in Grönland. Leider setzt er diese beiden Themen nicht zueinander in Beziehung. Auch im zweiten Teil wird die Frage nach den Ursachen der Bestandsentwicklung nicht aufgegriffen.

Die wichtigste Zahlenangabe im Beitrag – die verringerte Zahl der Vögel in Europa – ist zum einen durch einen Zahlendreher falsch; zum anderen fehlt jeder Bezugspunkt, der Leserinnen und Lesern verdeutlichen könnte, wie erheblich diese Abnahme tatsächlich ist. Da der Beitrag auch die wirtschaftliche Bedeutung von Vögeln, beispielsweise als Schädlingsvernichter, nicht anspricht, wird die Relevanz des Themas kaum deutlich.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Die Wortwahl des Beitrags ist sehr nüchtern. Es wird beschrieben, dass die Zahl der Vögel in Europa insgesamt zurückgegangen ist, einige Arten aber auch von Schutzprogrammen profitiert haben und wieder häufiger geworden sind. Anhand der genannten Fakten ist es ist es allerdings für Leserinnen und Leser schwer einzuschätzen, wie ernst der Rückgang der Vögel ist und welche Folgen damit verbunden sind. Dass es sich um ein schwerwiegendes Problem handelt, das nach Meinung vieler Experten auch für die Landwirtschaft erhebliche Bedeutung hat, wird nicht klar. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Die wichtigste Zahl des Beitrags ist durch einen Zahlendreher leider falsch: Im Artikel ist von mindestens 241 Millionen Vögel die Rede, tatsächlich beträgt der Rückgang laut Studie mindestens 421 Millionen. So oder so werden Leserinnen und Leser diese Zahl kaum einschätzen können, da sie zu nichts in Bezug gesetzt wird. Insbesondere fehlt jede Angabe dazu, wie viele Vögel es in Europa überhaupt gibt. Ist es ein dramatischer Rückgang? Oder ein Verlust von nur wenigen Prozent? Das macht in der Beurteilung einen entscheidenden Unterschied. Die relative Zahl – ein Rückgang um rund 20 Prozent – lässt sich aus den Angaben der Studie leicht errechnen. Hier ist die prozentuale Angabe wesentlich aussagekräftiger als der absolute Wert.

Auch erfährt man in dem Beitrag nicht, wie der Rückgang ermittelt wurde. „Grundlage der Studie sind Tausende Untersuchungen“, heißt es vage. Methodische Probleme, die in der Studie genannt sind, werden nicht angesprochen. So standen nicht für den gesamten Untersuchungszeitraum Daten aus allen Länder zur Verfügung („in the earlier years a smaller number of countries were used to produce the indices. Missing data were estimated using existing data from another countries within the same region that share socioeconomic, environment and environmental pressures.”).

3.EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Abhängigkeiten deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Der Beitrag bezieht sich hauptsächlich auf eine Studie, die britische Forscher in der Fachzeitschrift „Ecology Letters“ veröffentlicht haben. Als zweite Quelle wird eine Studie amerikanischer Forscher zur Vogelwelt in Grönland herangezogen. Die beiden Studien beschäftigen sich zwar mit demselben Thema – der Bestandsentwicklung von Vögeln. Allerdings haben sie ansonsten nicht viel miteinander zu tun. Die Situation in Nordwest-Grönland ist sehr speziell: Die Region profitiert in mancher Hinsicht vom Klimawandel, z.B. durch eine verlängerte Brutsaison. Das ist aber nicht vergleichbar mit der Entwicklung in den 25 europäischen Ländern, die in der zuerst genannten Studie untersucht wurden. Insofern handelt ist diese zweite Quelle nicht geeignet, die Ergebnisse der andere Studie einzuordnen, sondern es handelt sich um zwei Einzelstudien, die im Artikel nacheinander besprochen werden. Informativer wäre eine zweite Quelle gewesen, die die Ergebnisse der ersten Studie bewertet (z.B. ein unabhängiger Forscher oder ein Vertreter einer Naturschutzorganisation). Wir werten noch „knapp erfüllt“.

4.PRO UND CONTRA: Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

Die Grundaussage – die Zahl der Brutvögel in Europa ist deutlich zurückgegangen –  ist unstrittig. Zu den Ursachen allerdings gibt es sehr unterschiedliche Erklärungen, mit denen sich der Artikel hätte beschäftigen müssen, wenn er die Frage stellt: „Wo sind die Millionen Vögel geblieben?“ Der Artikel geht auf diese in der Überschrift aufgeworfenen Frage jedoch nur mit einem eingeschobenen Halbsatz ein: Der Rückgang werde „zum Beispiel mit Veränderungen in der Landwirtschaft und einer Zerstückelung von Lebensräumen erklärt“. Das lässt viele Fragen offen: Welche Veränderungen in der Landwirtschaft sind gemeint? Die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz machte kürzlich großflächige Monokulturen („Mais-Einöden“) für den Rückgang vieler Brutvogelarten verantwortlich. Der Bauernverband widersprach und verwies auf die Gefahren für Vögel „beim Zug in ihre Brut- und Winterquartiere“.

Auch viele andere Ursachen werden diskutiert, etwa die Rolle der Pestizide. Eine aktuelle Auseinandersetzung gibt es zudem um das Problem der verwilderten Hauskatzen (Link nicht mehr verfügbar). Keine dieser Kontroversen greift der Beitrag auf.

5. PRESSEMITTEILUNG: Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung / das Pressematerial hinaus.

Die Ausführungen im Beitrag, die sich auf den Beitrag in den „Ecology Letters“ bezieht, gehen nicht über die Informationen hinaus, die sich in einer Pressemitteilung der University of Exeter finden. Die Pressemitteilung ist sogar deutlich informativer, etwa was den zeitlichen Verlauf (siehe Kriterium 9) und den gesellschaftlichen Kontext (siehe Kriterium 10) angeht. Zu der zweiten im Beitrag angeführten Studie, die sich auf die Vogelwelt Grönlands bezieht, haben wir keine Pressemitteilung gefunden. Wir wenden das Kriterium daher nicht an.

6. ALT oder NEU: Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Im Beitrag steht, dass die Bestandsentwicklung der Vögel über drei Jahrzehnte beobachtet wurde. Damit wird klar, dass es sich nicht um ein neues Problem handelt.

7. LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN / kein „Greenwashing“: Der Beitrag nennt Wege, um ein Umweltproblem zu lösen, soweit dies möglich und angebracht ist.

Auf Lösungswege geht der Beitrag kaum ein. Es heißt lediglich, Schutzprogramme für seltene Arten seien „mit Anstrengungen zu verbinden, auch die Zahl der Vögel insgesamt wieder zu erhöhen“. Welche Maßnahmen dafür aber ergriffen werden müssten, spricht der Beitrag nicht an.  Welche Art von Anstrengungen? Umfangreichere Schutzprogramme? Umstellungen der Landwirtschaft? Wie und in welcher Form? Gibt es eine Hauptursache, die man mit einem konkreten Ansatz bekämpfen kann? Oder braucht es ganz unterschiedliche Schutzanstrengungen für die jeweiligen Arten? In der Studie zum Rückgang der Vögel in Europa sind Lösungsansätze nicht das zentrale Thema, doch werden sie immerhin angesprochen, etwa mit der Anregung, Programme zur Stadtbegrünung und für einen effektiven Umweltschutz in der Landwirtschaft aufzusetzen. Nicht einmal diese knappen Bemerkungen greift der Beitrag auf, schon gar nicht geht er der Frage nach Handlungsoptionen weiter nach, etwa durch eine entsprechende Anfrage bei einer Naturschutzorganisation. Umfangreiche Ausführungen zu Lösungsansätzen finden sich beispielsweise in einem Positionspapier der Deutsche Ornithologen-Gesellschaft und des Dachverbands Deutscher Avifaunisten zur Bestandssituation der Vögel der Agrarlandschaft. (Zu den Diskussionen um Handlungsoptionen siehe auch Kriterium 4).

8. RÄUMLICHE DIMENSION (lokal / regional / global): Die räumlichen Dimensionen eines Umweltthemas werden dargestellt.

Die Studie der Universität Exeter analysiert die Situation in 25 europäischen Ländern sowie in Grönland. Für Leserinnen und Leser wäre es sicher interessant, wie sich die Situation speziell in Deutschland darstellt. Anhand des Berichtes „Vögel in Deutschland 2013“ des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) wäre dies leicht in Erfahrung zu bringen gewesen. Das BfN führt u.a. aus „Von den häufigen Brutvogelarten mit Beständen über 100 000 Paaren in Deutschland nahm in den letzten 25 Jahren nahezu jede zweite zumindest leicht, in vielen Fällen jedoch moderat oder sogar stark ab!“ Auch hierzulande gehörten vor allem häufige und weit verbreitete Arten wie Feldlerche und Bluthänfling zu den Verlierern.

Auch sonst kommen im Artikel räumliche Aspekte zu kurz, etwa möglich regionale Ursachen der Entwicklung der Vogelbestände sowohl in Europa als auch in Grönland. Schließlich fehlen auch die von der britischen Studie angesprochenen regionalen Aspekte des Artenschutzes, der oft kleinräumig bestimmte seltene Arten begünstige, aber für räumlich weit verbreitete Arten keinen Schutz biete. („Conservation management tends to be targeted locally to increase the abundance of rare species, often through the establishment and maintenance of protected areas. Such management plans however offer little protection for more common and widespread species.”)

9. ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit): Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

Der Beitrag nennt den Zeitraum – drei Jahrzehnte – in dem die Daten erhoben wurden. Es wird klar, dass es sich bei der Bestandsentwicklung um einen langfristigen Trend handelt. Allerdings fehlen dazu wichtige Informationen. So fand laut Studie der größte Rückgang in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums statt, danach folgte eine Phase größerer Stabilität („Generalised linear models highlight steep declines during the first half of the study (1980-1994) followed by a period of greater stability during the second half”). Auch nahm der Bestand verschiedener Arten unterschiedlich schnell ab (“general trend for smaller birds to decline faster than larger birds”). Insgesamt fehlen im Beitrag konkrete Informationen dazu, in welcher Geschwindigkeit welche Vogelbestände sich entwickelt haben. Wiederholte Formulierungen wie „immer weniger“, „immer mehr“ sind hier wenig informativ.

10. KONTEXT / KOSTEN: Es werden politische, soziale oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Zum Kontext heißt es lediglich, dass die Vogelwelt von „großer ökologischer Bedeutung“ sei. Was das aber heißt, wird nicht erläutert. Jegliche Information zur wirtschaftlichen Bedeutung fehlt, obwohl elementare Angaben dazu schon der Pressemitteilung zu entnehmen gewesen wären, die etwa erläutert, dass Vögel Schädlinge dezimieren und Samen verbreiten, und darüber hinaus weitere Bedeutungen der Vogelwelt  für den Menschen anspricht („Birds provide multiple benefits to society. They help to control agricultural pests, are important dispersers of seeds, and scavenging species play a key role in the removal of carcasses from the environment. In addition, for many people birds are the primary way in which they interact with wildlife, through listening to bird song, enjoying the sight of birds in their local environment, feeding garden birds and through the hobby of bird watching.”) Weitere interessante Punkte wären die Kosten von Schutzmaßnahmen und Interessenkonflikte zwischen Landwirtschaft und Artenschutz.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. THEMENAUSWAHL: Das Thema ist aktuell, oder auch unabhängig von aktuellen Anlässen relevant oder originell.

Es handelt sich um ein relevantes Thema. Die Studie in den „Ecology Letters“ ist ein guter Aufhänger, um das latent aktuelle Thema aufzugreifen.

2. VERMITTLUNG: Komplexe Umweltzusammenhänge werden verständlich gemacht.

Der Artikel enthält interessante Informationen, lässt den Leser allerdings mit einer Reihe von offenen Fragen zurück. Der Text ist insgesamt verständlich, wenn auch nicht immer besonders ansprechend formuliert. Substantivierungen lassen den Text gelegentlich recht steif wirken (z.B. „Den Rückgang bei den eher alltäglichen Vogelarten, der zum Beispiel mit Veränderungen in der Landwirtschaft und einer Zerstückelung von Lebensräumen erklärt wird, sehen die  Forscher mit Sorge.“) Rätsel gibt die Überschrift auf – was sollen sich Leserinnen und Leser unter der „V-Frage“ vorstellen?  Wo die Millionen Vögeln geblieben sind, erfahren sie jedenfalls im Verlaufe des Textes nicht.

Auch fehlt dem Text ein roter Faden: Es werden nacheinander die Ergebnisse von zwei Studien referiert, ohne dass klar wird, ob die beiden Untersuchungen etwas miteinander zu tun haben. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

3. FAKTENTREUE: Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder.

Die wichtigste Zahl im Artikel ist falsch. Es handelt sich zwar „nur“ um einen Zahlendreher – im Artikel ist von 241 statt 421 Millionen Vögeln die Rede ist. Diese Zahl ist aber die zentrale Information im Artikel und hätte besonders geprüft werden müssen, daher werten wir hier „nicht erfüllt“.

Umweltjournalistische Kriterien: 3 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar