Bewertet am 24. September 2014
Veröffentlicht von: Spiegel Online

Spiegel Online berichtet über den raschen Ausbau erneuerbarer Energien in China. Deren Anteil habe fast das deutsche Niveau erreicht. Die Annahme im zugrunde liegenden Fachartikel, der globale freie Handel mit Solarmodulen und anderen Techniken für erneuerbare Energien werde das Klimaproblem lösen, wird nur sehr zurückhaltend in Frage gestellt.

Zusammenfassung

Der Spiegel Online-Beitrag beschäftigt sich mit einem Thema, das bisher nicht im Zentrum der Klimaberichterstattung stand: dem steigenden Anteil von Sonnen-, Wind- und Wasserkraft in China. Er vergleicht diese Entwicklung mit der deutschen Energiewende. Dabei bezieht er sich auf eine Veröffentlichung im Fachmagazin „Nature“, die allerdings fälschlich als „Studie“ bezeichnet wird. Tatsächlich handelt es sich um einen Kommentar, der naturgemäß neben vielen interessanten Sachinformationen auch die Meinung der Autoren darstellt. Deren sehr marktorientierte Auffassung wird im journalistischen Beitrag kaum hinterfragt. Auch könnte der Eindruck entstehen, dass der Fachartikel den Deutschland-China-Vergleich liefert; tatsächlich stammen etliche Informationen zu Deutschland aber aus anderen Quellen, die nicht im Einzelnen angeführt werden. Mit der Stellungnahme eines Grünen-Politikers wird aber zumindest kurz eine zweite Quelle einbezogen.

Der Beitrag greift vor allem die Zahlen des Fachartikels auf und ist damit sehr informativ. Zugleich liegt hier ein wesentliches Problem, denn die vielen Zahlen und Fakten machen den Text eher schwer lesbar. Die Möglichkeit des Online-Mediums, Zahlen und Trends in Infografiken darzustellen und so den Text davon zu entlasten, wird nicht genutzt.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Artikel schildert detailliert die Entwicklung der erneuerbaren Energien v.a. in China und Deutschland, ohne dabei die Probleme zu verharmlosen (so werden beispielsweise die ökologischen Probleme durch Staudämme kurz angesprochen). Die trotzdem weiter steigenden CO2-Emissionen werden genannt, aber nicht als unausweichliche Entwicklung dargestellt.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Beitrag bezieht sich auf einen Beitrag im Wissenschaftsjournal „Nature“, dem auch ein Großteil der Zahlen entnommen ist. Dabei wird allerdings nicht erwähnt, dass es sich bei dem Fachartikel um einen Kommentar handelt, sondern es wird in der Überschrift von einer „Energie-Studie“ gesprochen. Diese Unterscheidung wäre aber wichtig, da man bei einem Kommentar von einer stärkeren Zuspitzung bzw. von persönlichen Einschätzungen und Wertungen ausgehen muss. Auch wurden offenbar für den Fachbeitrag keine Zahlen neu erhoben, sondern andere Quellen genutzt – von einer „Studie“ kann also nicht die Rede sein. Woher die Zahlen ursprünglich stammen, und wie sie ermittelt wurden, wird im journalistischen Beitrag nicht angegeben. Der Nature-Kommentar nennt als Quellen u.a. einen Bericht von BP und einen Report des „World Energy Council“, eines internationalen Zusammenschlusses v.a. von Produzenten und Händlern fossiler Energien.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Es wird deutlich, dass die meisten Zahlen dem Nature-Fachbeitrag entstammen (allerdings mit den unter Kriterium 2 genannten Einschränkungen). Die zitierten Experten werden korrekt eingeordnet, als zweite Quelle wird ein Zitat des ehemaligen grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Josef Fell angeführt. Bei den Nature-Autoren sind Interessenkonflikte für uns nicht ersichtlich. Dass Hans-Josef Fell sich seit Jahren für erneuerbare Energien einsetzt, wird im Text durch den Hinweis auf seine Parteimitgliedschaft und Mitarbeit am ersten Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) gekennzeichnet. Für einige Angaben, z.B. zu den Kohlendioxidemissionen in Deutschland und China, fehlt die Quelle.

Wir werten „knapp erfüllt“.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Schwerpunkt des Online-Artikels liegt auf den positiven Effekten der chinesischen „Energiewende“, erwähnt werden aber auch die „dreckige(n) Weltrekorde“, also die hohen Emissionen im fossilen Bereich sowie die negativen Folgen von Großprojekten wie dem Drei-Schluchten-Staudamm. Am Ende des Beitrages relativiert der Artikel die positiven Erwartungen der beiden Wissenschaftler – es sei fraglich, ob die erhofften positiven Effekte schnell genug eintreten werden. Eine größere Kontroverse ist hier indes nicht erkennbar.

Einen wichtigen, durchaus kontrovers zu diskutierenden Punkt referiert der Beitrag dagegen nur knapp, ohne Gegenpositionen zu benennen: Die Nature-Autoren sprechen sich sehr entschieden dafür aus, die Entwicklung der erneuerbaren Energien dem freien Markt zu überlassen. Das weitere Wachstum erneuerbarer Energien werde automatisch folgen, wenn die Preise weiter sinken und die Industrieförderung wie in China im großen Stil weiter betrieben werde, (wobei weder der Nature-Beitrag noch der journalistische Text die staatlichen Bürgschaften und Steuernachlässe erwähnt). Alle Bestrebungen, den globalen freien Handel, etwa mit Solarmodulen, zu regulieren, sollten durch die Welthandelsorganisation WTO unterbunden werden. Hierzu wäre es nötig gewesen, auch eine andere Meinung zu Wort kommen zu lassen.

Die These, dass der Ausbau erneuerbarer Energien in einer Diktatur schneller durchzusetzen sei als in einer Demokratie, wird ebenfalls ohne Diskussion in den Raum gestellt. Wir werten insgesamt „knapp nicht erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung hinaus und gibt sehr viel ausführlicher als diese den Nature-Kommentar wieder. Mit Hans-Josef Fell wird eine weitere Quelle herangezogen.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es wird zwar nicht berichtet, wann genau die chinesische Energiewende eingeleitet wurde, der Artikel macht aber deutlich, dass es sich um einen Trend handelt, der seit einigen Jahren andauert. Der Anteil erneuerbarer Energien habe „im ersten Halbjahr 2014“ fast das deutsche Niveau erreicht.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien in China als Strategie gegen den Klimawandel und als Lösung des Problems der „sauberen Energieversorgung“ ist das zentrale Thema des Beitrags. Der Nature-Artikel betont darüberhinaus besonders die Unabhängigkeit von Energieträger-Importen – ein Gesichtspunkt, den der journalistische Beitrag nicht aufgreift.

Es wird weitgehend die chinesische Strategie referiert, wie sie die Nature-Autoren beschreiben: eine langfristige Zielsetzung beim Ausbau und feste Einspeisevergütungen, sowie die industrielle Produktion der Anlagen im großen Stil (economy of scales). Die Nature-Autoren gehen davon aus, dass die so geförderte Expansion erneuerbarer Energien irgendwann auch den CO2-Ausstoß senken wird. Der Online-Beitrag setzt hier ein Fragezeichen: „Ob dieser Weg schnell genug zum Erfolg führt, um die Folgen des Klimawandels in möglichst engen Grenzen zu halten, bleibt allerdings fraglich.“ Wir hätten es gut gefunden, wenn diese Kritik etwas detaillierter ausgeführt worden wäre.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Im Fokus des Beitrags steht China, es werden zahlreiche Vergleiche zur Situation in Deutschland gezogen. Auch weitere Perspektiven (USA, EU, global) werden berücksichtigt. Damit wird klar, dass es sich um ein globales Thema mit verschiedenen regionalen Lösungsansätzen handelt.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Es wird über die Entwicklung im Laufe der letzten Jahre berichtet; konkret werden beispielsweise der Ausbau der Fotovoltaik von 2010 bis 2013 genannt, sowie die verfünffachte Leistung der Windräder seit 2009. Zur Zielsetzung für die Zukunft heißt es: „Bis 2017 will die chinesische Regierung 550 Gigawatt Leistung aus allen erneuerbaren Energien erreichen.“ Zugleich erwähnt der Beitrag aber auch den stark wachsenden Stromverbrauch und macht deutlich, dass die Kohlekraftwerke noch Jahrzehnte laufen werden.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Beitrag stellt die Dynamik des Ausbaus erneuerbarer Energien in China im Vergleich zu Deutschland dar. Der unterschiedliche Kontext in beiden Ländern wird dabei nur kurz angedeutet. Die Verweise auf das unterschiedliche politische System sowie die Umweltprobleme in je einem Satz genügen uns hier nicht. Ebenso werden die ökologischen und sozialen Folgen der chinesischen Energiepolitik mit einem Satz zur Staudamm-Problematik nur gar zu knapp erwähnt.

Auf die Kosten und den Nutzen für den Ausbau in China und den Umbau in Deutschland geht der Beitrag kaum ein. Erwähnt wird lediglich, dass durch die Massenproduktion die Fertigungskosten von Solarmodulen um 80 Prozent gesunken seien – was das aber in absoluten Zahlen bedeutet, erfährt man nicht. Die Gesamtkosten der Energiewende werden weder für China noch für Deutschland benannt, genau so wenig wie die jeweiligen Kosten beim Zubau von fossilen und erneuerbaren Energien.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Der Ausbau erneuerbarer Energien in China ist ein interessantes Thema, über das in Deutschland unseres Wissens noch nicht oft berichtet wurde. Der Nature-Kommentar bietet einen aktuellen Anlass für den Online-Beitrag. Auch durch die deutsche Debatte über eine EEG-Novelle ist das Themenfeld aktuell.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Beitrag berichtet faktenreich über den Ausbau erneuerbarer Energien in China im Vergleich zu Deutschland und nennt dabei eine Fülle von Zahlen. Diese sind zwar informativ, behindern aber in dieser Häufung doch den Lesefluss. Für Leserinnen und Leser ist es kaum möglich, sich die vielen Daten und Vergleiche wirklich zu merken. Hier werden die Möglichkeiten eines Online-Betrags nur unzureichend genutzt: Sinnvoll wäre es unseres Erachtens gewesen, die meisten Zahlen in Diagramme auszulagern, die dem Leser auf einen Blick die wichtigsten Trends vermitteln, und dafür im Text mehr Erklärung, Einordnung und Hintergründe zu liefern. Mit Ausnahme einer Grafik zum wachsenden Kohleverbrauch Chinas wird davon kein Gebrauch gemacht. Die Links im Beitrag verweisen lediglich auf ältere Spiegel-Artikel zu verwandten Themen, ohne spezielle Hintergrund-Informationen zu diesem Beitrag zu liefern. Wir werten knapp nicht erfüllt.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Die Bezeichnung des Nature-Beitrags als „Studie“ ist nicht korrekt (siehe dazu Kriterium 2, Belege). Darüber hinaus sind uns keine Faktenfehler aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 7 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar