Bewertet am 7. April 2014
Veröffentlicht von: Hamburger Abendblatt

Mit dem Klimawandel wandern viele Arten aus den bisher von ihnen besiedelten Lebensräume aus, etwa in Richtung der Polargebiete oder in höhergelegene Gebirgsregionen. Ein Beitrag im Hamburger Abendblatt berichtet gut verständlich über eine aktuelle Studie zu diesem Thema. Dabei wird allerdings nicht klar, dass die Studie nicht nur auf Messungen, sondern zu einem erheblichen Teil auf Modellrechnungen beruht.

Zusammenfassung

Ausgehend von einer aktuellen in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichten Studie berichtet der Artikel über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Verbreitungsgebiete verschiedener Tier- und Pflanzenarten. Es wird sachlich beschrieben, dass der Klimawandel zu Veränderungen in der Artenzusammensetzung von Lebensräumen im Meer und an Land führt. In bestimmten Regionen bleibt Tieren und Pflanzen, die sich nicht oder nicht schnell genug an die veränderten Bedingungen anpassen können, demnach keine Möglichkeit, in andere Gebiete auszuweichen.

Der Beitrag stellt die grundlegenden Ergebnisse verständlich vor, und die Autorin befragt neben einem Verfasser der Studie weitere Experten, die die Arbeit kommentieren. Konsequenzen aus der Studie für den Artenschutz werden knapp erwähnt. Leider macht der Beitrag nicht deutlich, welche Angaben auf Messungen und welche auf Prognosen beruhen. Außerdem kommt der über die reine Wissenschaft hinausgehende Kontext dieser Forschung zu kurz; so werden zum Beispiel die ökonomischen Folgen nicht angesprochen, die die Veränderungen der Ökosysteme mit sich bringen können.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Beitrag beschreibt sachlich, in welchen Fällen sich Tier- und Pflanzenarten durch Wanderung nach Norden oder in höhere Lagen an den Klimawandel anpassen können, und in welchen Fällen diese Strategie nicht mehr erfolgreich ist, beispielsweise wenn die Gipfelregion eines Gebirges oder die Polargebiete erreicht sind. Die Problematik wird recht detailliert dargestellt und dabei weder verharmlost noch übertrieben. So erwähnt der Beitrag beispielsweise, dass es beim Aufeinandertreffen der Arten „Gewinner und Verlierer“ geben wird, dass viele Regionen wärmer, manche aber auch kühler werden.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft („Evidenz“)deutlich wird.

Der Beitrag beschreibt einerseits recht genau, wie die Forscher bei ihren Untersuchungen vorgegangen sind („Der Paläobiologe und seine Kollegen teilten dafür die Erdoberfläche in viele Quadrate auf und notierten für jedes Kästchen, wie sich die Temperatur dort in den vergangenen 50 Jahren entwickelt hat. Mit kleinen Pfeilen geben die Forscher an, in welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sich die Klimaregionen über Kontinente oder Ozeane bewegen.“). Andererseits fehlt eine zentrale Information zur Methodik: In der Studie wurde nicht nur untersucht, „wie sich das Klima in den vergangenen 50 Jahren in den verschiedenen Erdteilen veränderte“, sondern es wurde auch prognostiziert, was in der Zukunft, konkret im Zeitraum 2006 – 2100, geschehen wird. Der erste Untersuchungszeitraum bezieht sich also auf Messungen, der zweite auf Prognosen („based on trends from ensembles of global climate models for 2006–2100“, heißt es dazu in der Nature-Fachpublikation). Im Artikel entsteht zudem der Eindruck, die Forscher hätten Bestandserhebungen gemacht („untersucht …. welche Auswirkungen das auf die Verbreitung der Tierarten hat.“). Tatsächlich haben sie aber nur rückgeschlossen, wie sich die Klimaveränderungen auf die Verbreitung auswirken könnten („to infer changes in species distribution“). Diese sozusagen doppelte Unsicherheit wird im Artikel nicht deutlich.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Der Artikel macht klar, dass es sich um eine internationale Studie handelt, die im Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde. Der beteiligte deutsche Wissenschaftler Wolfgang Kießling von der Universität Erlangen-Nürnberg wird ausführlich zitiert. Darüber hinaus kommen zwei weitere Experten zu Wort: Ingolf Kühn vom Helmholtzzentrum für Umweltforschung (UFZ) und Alice Boit vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) bestätigen einzelne Aussagen der Studie bzw. liefern zusätzliche Aspekte. Die Experten werden klar zugeordnet, spezielle Interessenkonflikte sind nicht ersichtlich.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Die beschriebene Studie bestätigt eine Vielzahl vorliegender Beobachtungen und vorangegangene Forschungsarbeiten zu Veränderungen in den Ökosystemen der Welt. Dabei steht zwar nicht grundsätzlich in Frage, dass Klimaveränderungen die Verteilung von Tier- und Pflanzenarten beeinflussen. Aber es wird durchaus darüber diskutiert, wie groß der Einfluss unterschiedlicher klimatischer und nichtklimatischer Faktoren ist (z.B. hier) .

Im Zeitungsartikel entsteht der Eindruck, es sei vor allem die Temperatur, die den Tieren zu schaffen macht. Andere Faktoren, die ebenfalls eine Rolle spielen, werden nicht erwähnt (z.B. der Mangel an Nahrung, veränderte Niederschläge). Auch ist die Anpassungsfähigkeit der Arten sehr unterschiedlich (siehe z.B. hier). Ferner hätte man erwähnen können, dass in vielen der betrachteten Regionen der Verlust an Lebensräumen – z.B. durch Rodung – zumindest kurzfristig gravierendere Auswirkungen hat als der Klimawandel. Er führt zum unmittelbaren Verschwinden von Arten. Da keine solcher Aspekt zumindest kurz angesprochen wird, werten wir „knapp nicht erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Dem Text liegt eine Pressemitteilung der Universität Erlangen zugrunde, in einigen Passagen wird diese fast wörtlich wiedergegeben. Doch insgesamt geht der Beitrag über die Pressemitteilung klar hinaus: Es wurde nicht nur mit dem Mitautor der Studie Wolfgang Kießling gesprochen, sondern es wurden auch Einschätzungen von zwei weiteren, nicht an der Studie beteiligten Experten vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Halle und vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung eingeholt. Etwas unbefriedigend ist es, dass der Beitrag zum Artenschutz nur die vagen Aussagen der Pressemitteilung aufgreift, ohne dazu weitere Quellen zu befragen (siehe dazu Kriterium 7).

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Mit der Verschiebung von Lebensräumen durch den Klimawandel greift der Beitrag ein Thema auf, zu dem es seit Jahren Beobachtungen und wissenschaftliche Publikationen gibt. So hat beispielsweise die Außenstelle des Albert-Wegener-Instituts auf Helgoland Veränderungen im Nahrungsnetz der Nordsee dokumentiert (Link nicht mehr verfügbar), die auf die Erwärmung des Meeres zurückzuführen sind. Auch das im Beitrag erwähnte Auftreten von Bienenfressern in Deutschland wird seit langem beobachtet.

Mit der Einordnung durch den UFZ-Forscher Kühn wird dann – relativ spät im Beitrag – erläutert, worin der Neuigkeitswert der aktuellen Untersuchung besteht: „Spannend an der Expertise sei vor allem, dass ein neuer Schwerpunkt gesetzt werde. Es werde nicht nur untersucht, wo die Zahl der Arten ab- oder zunimmt, sondern auch ihre Wanderung beobachtet.“

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Der Beitrag folgt hier der Pressemitteilung, in der es heißt, die Studie solle helfen „den Schutz der Artenvielfalt effizienter zu machen“. Als Handlungsoption wird genannt, Schutzmaßnahmen auf Gebiete zu konzentrieren, „wo sich das Klima nur langsam ändere“, wo demnach die Erfolgsaussichten am größten seien. Welche Art von Maßnahmen hier gemeint ist, bleibt allerdings offen. Auch die zugrunde liegende Studie trifft zu diesem Punkt keine Aussagen. Hier wäre es womöglich interessant gewesen, zusätzlich einen Artenschutzexperten zu befragen, welche Schlüsse er aus der Forschungsarbeit ziehen würde. Außerdem wird die – laut Aussage des Experten Wolfgang Kießling nicht wünschenswerte – Option angesprochen, Arten in kühlere Gebiete umzusiedeln.

Dass auf generelle Maßnahmen gegen den Klimawandel nicht eingegangen wird, ist bei dem Fokus des Artikels kein Mangel. Wir werten noch „erfüllt“.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Der globale Ansatz im Design der Studie wird deutlich. Der Artikel berichtet, es sei untersucht worden „wie sich das Klima in den vergangenen 50 Jahren in den verschiedenen Erdteilen veränderte“, und „mit welcher Geschwindigkeit sich die Klimaregionen über Kontinente oder Ozeane bewegen“. Darüber hinaus werden etliche regionale Beispiele angeführt (z.B. Hering und Kabeljau, die aus der Nordsee abwandern, Bienenfresser und Taubenschwänzchen, die aus wärmeren Regionen nach Deutschland kommen).

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Der Beitrag berichtet, dass die Temperaturveränderungen „in den vergangenen 50 Jahren“ untersucht wurden. Es wird klar, dass das Problem aktuell ist, aber bereits in der Vergangenheit begonnen hat. Der Artikel betont, dass es stark auf die Geschwindigkeit der Klimaveränderungen ankommt: „Für das Überleben der einzelnen Tier- oder Pflanzenart ist nicht so sehr die absolute Temperaturveränderung entscheidend, sondern wie schnell und in welche Richtung sich das Klima verändert und ob die Arten es schaffen, dem Klima hinterher zu wandern.“ Auch das Expertenzitat „Vermutlich ist der Klimawandel zehnmal schneller als das Tempo, mit dem die Arten hinterherwandern können“ macht die zeitliche Dimension deutlich.

Es wird darauf hingewiesen, dass sich die Artenzusammensetzung vieler Ökosysteme ändern könnte, und dass die Folgen schwer absehbar sind. Damit wird klar, dass dies ein Thema ist, das im weiteren Verlauf des Klimawandels dauerhaft aktuell bleiben wird. Leider fehlen genauere Angaben zur künftigen Entwicklung, obwohl die Studie hier einen konkreten Zeitraum betrachtet (2006 – 2100) – siehe dazu auch Kriterium 2.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen der Veränderungen in Ökosystemen durch den Klimawandel werden nicht erwähnt. Warum ist ein Verlust von Arten problematisch? Welche Ökosystemleistungen sind z.B. gefährdet, wenn Wälder schrumpfen, Pflanzen bestäubende Arten wegfallen etc.? Welche negativen Auswirkungen können invasive Arten haben – für das Ökosystem, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht? Es hätte es sich beispielsweise angeboten, Studien zur ökonomischen Bewertung von Ökosystemen (TEEB-Studien) wenigstens kurz einzubeziehen. Der Artikel beschränkt sich auf die wissenschaftlichen Aspekte, ohne sie politisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich einzuordnen.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Der Betrag behandelt ein latent aktuelles und relevantes Thema. Die kurz vor dem Erscheinen des Beitrags publizierte Studie bietet einen Anlass für die Berichterstattung.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Artikel schildert die Studie auf verständliche Weise indem er z.B. erläutert, was die Wissenschaftler unter „Quellen“, „Senken“ und „Korridoren“ verstehen. Mit Beispielen werden die sonst recht abstrakten Wanderungsbewegungen der Tierarten veranschaulicht.

Geschmacksache ist der Beginn des Textes: Hier wird versucht, den Leser an der Hand zu nehmen (wenn es zu warm ist, Kleidung ausziehen oder Klimaanlage anschalten). Da dieses Motiv dann im weiteren Verlauf des Beitrags aber nicht mehr aufgriffen wird, irritiert dieser saloppe Einstieg eher. Die Dramaturgie folgt weitgehend dem Aufbau der Pressemitteilung, bis hin zum Schluss (Nutzen der Studie für den Artenschutz), der Fragen aufwirft, ohne diese durch eigene Recherchen zu beantworten. Wir werten „noch erfüllt.“

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Abgesehen von der nicht korrekt wiedergegebenen Methodik (s. Kriterium 2) sind uns keine Faktenfehler aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 7 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar