Bewertet am 8. Dezember 2020
Veröffentlicht von: Die Welt
Kann Vitamin D vor einem schweren Covid-19-Verlauf schützen? Ein Interview mit einem Vitamin D-Experten macht klar, dass es zwar ein paar Indizien dafür gibt, die Studienlage aber zu dünn und widersprüchlich ist, um daraus Rückschlüsse zu ziehen. Das Interview ist interessant und aufschlussreich, an ein paar Stellen hätten wir uns jedoch mehr Informationen gewünscht.

Zusammenfassung

Ob Vitamin D als einfaches Nahrungsergänzungsmittel vor komplikationsreichen Covid-19-Erkrankungen schützen kann, wird seit Monaten diskutiert. Könnte man sie mit „Ja“ beantworten, wäre das eine Sensation. Ein journalistischer Beitrag in „Die Welt“ greift die Thematik aktuell auf und befragt einen der führenden Vitamin D-Forscher zur aktuellen Studienlage. In einem ausführlichen Interview spricht er über die Grenzen und die Aussagekraft bisheriger Studien und stellt auch seine im Oktober angelaufene „Coronavit“-Studie an der Queen Mary Universität London kurz vor. Wie im Artikel deutlich wird, soll diese Untersuchung klären, ob die Behandlung eines Vitamin D-Defizits im Winter das Risiko für eine Corona-Infektion oder zumindest einen schweren Krankheitsverlauf reduzieren kann. Der journalistische Beitrag ist interessant und verständlich geschrieben und spricht viele wichtige Aspekte zur bisherigen Studienlage an. Auch kommt die Frage auf, welche Empfehlung der Forscher derzeit abgeben würde – was für die Leserinnen und Leser natürlich besonders hilfreich ist.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Dem befragten Experten zufolge könnte Vitamin D das Immunsystem stärken und Entzündungsreaktionen abschwächen. Allerdings macht er auch klar, dass es sich bislang vor allem um „Indizien“ handelt: „Es gibt einige Indizien, die dafür sprechen, dass solche Hoffnungen berechtigt sind. Da wären zum einen die Laborergebnisse. Sie deuten darauf hin, dass Vitamin D das Immunsystem stärken kann – zumindest gilt das generell für Atemwegsinfekte. Vitamin D scheint auch in der Lage zu sein, Entzündungsreaktionen zu bremsen.“ Der Forscher ist selbst also sehr vorsichtig in seiner Wortwahl. Zu Recht, denn man weiß noch nicht, ob es tatsächlich einen solchen Effekt gibt und falls ja, wie groß er ausfallen wird. Schade ist, dass der Forscher den Nutzen bei Menschen mit niedrigem Vitamin D-Spiegel nicht in absoluten Zahlen beschreibt. Dort heißt es lediglich: „Bei diesen Menschen wird das Risiko einer Atemwegsinfektion durch die Einnahme von Vitamin D um 40 Prozent gesenkt.“ Zusätzlich erwähnt der Forscher unter anderem eine Studie zu Vitamin D und Covid-19-Patienten. Darin wurden jene Patienten deutlich seltener auf die Intensivstation überwiesen, die zusätzlich zu der normalen Therapie mit hohen Dosen Vitamin D behandelt wurden. Doch auch hier ergänzt der Experte sofort, dass „die Wirkung von Vitamin D gegen Coronaviren damit noch lange nicht bewiesen ist“ (siehe auch das Kriterium Evidenz). Insgesamt hält es der Forscher immerhin für möglich, dass sich der Krankheitsverlauf mit einer frühen Einnahme abschwächen ließe: „Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Gabe im Anfangsstadium der Infektion größere Erfolge verspricht. Also, dass weniger Menschen unter dieser Therapie Symptome entwickeln oder sogar ins Krankenhaus müssen.“ Nicht ganz klar wird, ob er damit alle Patienten meint oder nur solche mit einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel. Denn eigentlich gilt: Für gesunde Menschen sind Nahrungsergänzungsmittel überflüssig und können im Zweifel sogar schaden. Insgesamt werten wir deshalb nur knapp „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Dass zu viel Vitamin D auch Nachteile haben kann, wird im Beitrag deutlich. Allerdings treten solche Probleme laut dem Experten erst bei recht hohen Dosen auf: „Um Probleme wie Nierensteine oder gar Nierenversagen zu entwickeln, muss man schon mehr als 4000 Einheiten schlucken. Das liegt weit über den üblichen Dosen.“ Auf den Internetseiten des Robert-Koch-Instituts heißt es dagegen: „Bei einer übermäßig hohen Einnahme von Vitamin D entstehen im Körper erhöhte Kalziumspiegel (Hyperkalzämie), die akut zu Übelkeit, Appetitlosigkeit, Bauchkrämpfen, Erbrechen oder in schweren Fällen zu Nierenschädigung, Herzrhythmusstörungen, Bewusstlosigkeit und Tod führen können. Da Vitamin D im Körper gespeichert werden kann, ist neben einer akuten auch eine schleichende Überdosierung möglich.“ (siehe auch rki.de) Was eine „übermäßig hohe Einnahme“ ist, beziffert das RKI nicht. Auch in einem Cochrane Review von 2011 heißt es, dass bei Personen, die Vitamin D über einen Zeitraum von fünf bis sieben Jahre einnahmen, vermehrt Nierensteine und erhöhte Calciumspiegel im Blut festgestellt wurden. Alles in allem hätte man sich besonders zum Problem der Anreicherung von Vitamin D im Körper mehr Informationen gewünscht. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Vitamin D ist als Nahrungsergänzungsmittel in Drogerie- und Supermärkten frei verfügbar, aber auch als apothekenpflichtiges Arzneimittel erhältlich. Ab einer bestimmten Dosierung ist es sogar verschreibungspflichtig. Das wird im Text nicht eigens angesprochen. Da es aber seit Jahren in dieser Art verfügbar ist, können wir das als bekannt voraussetzen – und werten dieses Kriterium daher als „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Eine Alternative zu Vitamin D zur Vorbeugung schwerer Verläufe einer Covid-19-Erkrankung wird im Text nicht thematisiert – vermutlich, weil sich bislang noch kein Arzneimittel dafür bewährt hat. Allerdings wäre es wichtig gewesen, die bereits eingesetzten Präventionsmaßnahmen zu erwähnen: Abstand und Hygiene, Lüften und Atemschutzmasken. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Da es sich um ein frei verkäufliches Nahrungsergänzungsmittel handelt, kann man von einem geringen Preis ausgehen. Gerade weil aber viele andere, künftige Therapieansätze sehr teuer sein dürften, wäre es schön gewesen, diesen Vorteil im Text hervorzuheben.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Krankheit Covid-19 wird nicht übertrieben dargestellt. Es wird lediglich korrekt beschrieben, dass „dieser Erreger ganz besonders ansteckend ist“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Zwar berichtet der Experte von positiv klingenden Studien: „Beobachtungsstudien (zeigen), dass Patienten mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel nicht nur dazu neigen, sich häufiger mit Coronaviren anzustecken, sondern auch anfälliger für komplikationsreiche Verläufe sind.“ Oder hier: „Im Juli haben spanische Kollegen zudem getestet, ob es einen Unterschied macht, wenn man Krankenhauspatienten zusätzlich hohe Vitamin-D-Dosen gibt. Mit Erfolg: Sie wurden deutlich seltener auf die Intensivstation überwiesen als Betroffene, die nur die übliche Therapie erhielten.“ Anschließend aber macht er auch auf die wichtigen Einschränkungen aufmerksam: „Die Ergebnisse von Beobachtungsstudien sind ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Man weiß bei den entdeckten Assoziationen nie, ist nun tatsächlich der Vitamin-D-Mangel verantwortlich für die Auffälligkeiten, oder sind niedrige Vitamin D-Spiegel und schwere Corona-Verläufe aus anderen Gründen häufig gemeinsam bei Menschen anzutreffen. Und die gibt es: Alter, Übergewicht und eine dunkle Hautfarbe sind mit beidem verbunden. Zudem kommen nicht alle Studien zum gleichen Ergebnis.“ Bei der spanischen Studie gibt der Forscher zurecht zu bedenken, dass nur eine kleine Anzahl von Probanden getestet wurde. „Ich forsche inzwischen seit 20 Jahren zu Vitamin D und muss aus Erfahrung sagen: Die Ergebnisse klingen fast zu schön, um wahr zu sein. Das heißt, hier könnte auch der Zufall eine große Rolle spielen. Zudem ist die Arbeit veraltet, weil man inzwischen Kranken ganz andere Medikamente gibt. Und es gibt auch noch andere qualitative Probleme mit dieser Studie – es gab beispielsweise keine doppelte Verblindung.“ An dieser Stelle hätte man noch erwähnen können, dass es auch Studien gibt, die sogar zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen sind: medrxiv.org/content. Auf die gerade angelaufene Studie des Forschers wird dagegen kaum eingegangen. Er habe „gerade mit Kollegen eine Studie gestartet, die prüfen soll, ob Vitamin D gegen das Coronavirus wirkt – mit insgesamt 6200 Patienten“. Aber wie die Studie genau aufgebaut ist und was verglichen wird, erfahren die Leser und Leserinnen nicht. Dabei wäre die Frage spannend, denn in der Pressemitteilung heißt es lediglich: „Any UK resident aged 16 or more can participate if they are not already taking high-dose vitamin D.“ („Jeder Einwohner Großbritanniens älter als 16 Jahre kann teilnehmen, wenn er nicht bereits hochdosiertes Vitamin D einnimmt.“ Siehe auch: qmul.ac.uk/media/news). Insgesamt werten wir jedoch „ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Im vorliegenden Interview werden keine unabhängigen Experten oder Quellen genannt. Doch hätte man bei manchen Aspekten wie etwa den Risiken durchaus die Informationen unabhängiger Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut in die Fragen hätte einfließen lassen können. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Interessenkonflikte werden nicht thematisiert, sind aber nach unseren Erkenntnissen auch nicht vorhanden. Der britische Pneumologe und Immunologe Adrian Martineau von der Queen Mary University of London erforscht seit 20 Jahren die Wirkung von Vitamin D und betreibt einen Vitamin D-Podcast. In den wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Experten findet sich kein Hinweis auf einen Interessenskonflikt. Daher werten wir „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Dass Vitamin D ein Dauerbrenner ist, wird bereits im Vorspann angesprochen: „Mit Vitamin D verbinden sich schon seit Langem große Hoffnungen: Es soll nicht nur die Knochen festigen, sondern sogar gegen Infektionen schützen.“ Es wird auch die Schattenseite der Debatte angesprochen: „Gerade Vitamin D wurde in der Medizin aber auch häufig überschätzt.“ „Medizin transparent“ von Cochrane Österreich schrieb zum Beispiel im April 2020: „Ob sich eine Infektion mit dem Coronavirus durch Vitamin D abwehren lässt, wurde bisher nicht untersucht. Es ist allerdings wenig plausibel. Wahrscheinlich keinen vorbeugenden Effekt hat zusätzliches Vitamin D gegen Infektionen mit Erkältungs-, Schnupfen- und Grippeviren. Das gilt zumindest für Menschen mit normalem oder mäßig erniedrigtem Vitamin-D-Spiegel im Blut. Besteht ein gravierender Mangel, dürfte das Immunsystem von einer Behandlung mit Vitamin D allerdings profitieren.“ Link: medizin-transparent.at. Die Datenlage ist derzeit sehr widersprüchlich. Mal wird gezeigt, dass hospitalisierte und schwer erkrankte COVID-19-Patienten häufiger einen Vitamin-D-Mangel haben als andere. Dann wieder gibt es Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Status und Krankheitsschwere oder Lungenfunktion finden. Zudem gibt es eine Debatte darüber, ob ein niedriger Vitamin-D-Spiegel vielleicht eher Folge (und nicht Ursache) einer COVID-19-Erkrankung ist. Diese Aspekte fehlen im journalistischen Beitrag. Zudem ist mit dem Thema noch ein anderes Problem verbunden: Nahrungsergänzungsmittel sind Lebensmittel und unterliegen daher keiner Zulassungspflicht. Sie stellen keine Arzneimittel dar und dürfen auch gar nicht damit beworben werden, dass sie gegen Krankheiten helfen. Sie sind lediglich dazu bestimmt, die Ernährung von gesunden Personen zu ergänzen. Wer einen möglichen Nutzen von Vitamin D thematisiert, muss immer im Blick haben, dass viele unseriöse Trittbrettfahrer im Netz mit irreführenden Versprechen für Nahrungsergänzungsmittel werben. Insgesamt wäre es wünschenswert gewesen, mehr kritische Nachfragen im Interview zu lesen, um die Thematik noch besser einzuordnen. Deshalb werten wir dieses Kriterium nur mit knapp „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Faktenfehler haben wir nicht gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Das Interview geht weit über die Pressemitteilung hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Das Thema ist attraktiv vermittelt. Die Sprache ist ansprechend, die Interviewführung peppig und auf Augenhöhe.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Das Interview ist sehr gut zu lesen und in vielen Abschnitten gut verständlich. Die medizinischen und wissenschaftlichen Aspekte werden sehr eingängig vermittelt, Fachbegriffe vermieden. Schön ist die britische Redewendung: „die Stalltür schließen, nachdem das Pferd längst weggerannt ist“, weil sie anschaulich auf den Punkt bringt, dass womöglich der Zeitpunkt einer Vitamin D-Gabe eine wichtige Rolle spielt. Mit vielen erklärenden Beispielen vermittelt der Experte, welche Hinweise es für eine Wirkung gibt und welche Schlüsse man noch nicht ziehen kann. An wenigen Stellen hätten wir uns dennoch mehr Erklärungen gewünscht. So dürfte den wenigsten Lesern und Leserinnen bekannt sein, was eine doppelte Verblindung ist. (Zur Erklärung: doppelte Verblindung heißt in diesem Zusammenhang, dass in einer Studie eine Teilnehmergruppe Vitamin D verabreicht bekommt. Gleichzeitig erhält eine Kontrollgruppe ein Placebo, also ein Scheinmedikament. Wenn die Probanden nicht wissen, was sie bekommen, spricht man von Verblindung. Wissen weder die Ärzte noch die Probanden der Studie, was sie bekommen, spricht man von doppelter Verblindung.) Außerdem wird nicht an allen Stellen des Interviews ganz klar, ob es um schädliche Auswirkungen eines Vitaminmangels geht, um positive Effekte einer normalen Vitamin D-Versorgung oder um eine zusätzliche, hochdosierte Gabe von Vitamin D („Sie deuten darauf hin, dass Vitamin D das Immunsystem stärken kann – zumindest gilt das generell für Atemwegsinfekte. Vitamin D scheint auch in der Lage zu sein, Entzündungsreaktionen zu bremsen.“) Hier wäre eine deutlichere Abgrenzung dieser Aspekte hilfreich gewesen. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Viele Menschen fragen sich in der aktuellen Pandemie und Erkältungssaison, ob sie sich selbst vor einer schweren Covid-19-Erkrankung schützen können. Da viele Forschungen sich mit Vitamin D befassen und das Interview zudem eine neue britische Studie zum Anlass hat, ist die Themenauswahl völlig berechtigt.

Medizinjournalistische Kriterien: 12 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar