Bewertet am 14. November 2020
Veröffentlicht von: Der Spiegel (online)
Menschen sind der Pandemie zunehmend müde, nach Monaten der Vorsicht und Einschränkungen im Alltag. Umso wichtiger ist es, keine ungerechtfertigten Hoffnungen zu wecken, ob und wann ein Impfstoff gegen das neue Coronavirus zur Verfügung stehen könnte. Einem journalistischen Beitrag auf Spiegel Online gelingt dies auf herausragende Weise: Der Artikel macht deutlich, dass die Studiendaten vielversprechend sind, erklärt jedoch auch ausführlich die eingeschränkte Aussagekraft der Zwischenergebnisse.

Zusammenfassung

Im Wettrennen um einen Impfstoff gegen das neue Coronavirus melden die Firmen Biontech und Pfizer nun einen Erfolg: Erste Zwischenergebnisse zeigen, dass ihr Impfstoff BNT162b2 mehr als 90 Prozent der Geimpften vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 schützen könnte. Darüber berichtet Spiegel Online (basierend auf einem dpa-Artikel) in einem aktuellen Beitrag und legt ausführlich dar, was diese vorläufigen Daten bedeuten – und warum Experten nur vorsichtig optimistisch sind. Auch wird deutlich, in welchem Spannungsfeld sich die Impfstoffentwicklung derzeit befindet: nämlich möglichst schnell und dennoch gründlich die Wirksamkeit und mögliche Risiken des Impfstoffs zu untersuchen. Der Nutzen eines solchen Impfstoffs und die Qualität der vorliegenden Evidenz werden im Beitrag gut erklärt, auch unabhängige Experten kommen zu Wort. Allerdings hätte noch mehr diskutiert werden können, warum zu diesem Zeitpunkt bereits Impfdosen bestellt werden – bevor die anvisierte Zahl von insgesamt 164 Covid-19-Patienten in der Studie erreicht ist. Schade ist zudem, dass im Artikel keinerlei Sprachbilder oder anschauliche Vergleiche verwendet werden, um den Leseanreiz zu erhöhen.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Im journalistischen Beitrag wird deutlich, dass der Impfstoff schon bei einem Impfschutz von 50 Prozent der Geimpften als erfolgreich gelten würde. Auch wird erklärt, dass die jetzige Zwischenauswertung der Studiendaten laut Pressemitteilung sogar auf einen Impfschutz von 90 Prozent der Geimpften kommt. Lobenswert ist vor allem, dass der Artikel versucht hat, die relativen Zahlen der Pressemitteilung in absolute Werte umzurechnen: „Bislang wurden in der Studie 94 Corona-Fälle bestätigt, fast alle betrafen die Placebogruppe. Um auf eine geschätzte Wirksamkeit von mehr als 90 Prozent zu kommen, müsste es analog zur Berechnung der Zwischenpunkte im Studienprotokoll, also dem Ablaufplan der Studie, rechnerisch mindestens 86 Fälle gegeben haben – im Gegensatz zu höchstens acht Fällen unter den Geimpften.“ Und es wird klar, dass sich angesichts dieser aktuellen Zahlen die Frage nach der Wirksamkeit in der endgültigen Auswertung vermutlich nicht mehr stellen wird. Gleichzeitig wird aber auch dargelegt, dass noch einige Fragen offen sind – etwa, ob der Impfstoff schwere Erkrankungen verhindern kann: „(…) gab es Kritik daran, dass Infizierte mit relativ milden Symptomen in der Studie als Fälle gezählt werden. Dadurch lässt sich schwieriger abschätzen, inwiefern der Impfstoff Infektionen mit schweren Verläufen verhindert. Zudem verrät die Untersuchung nicht, wie viele symptomlose Infektionen die Impfung verhindert.“

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Auf Nebenwirkungen und Risiken geht der Beitrag nur sehr kurz ein: „Nach Angaben der Firma zeigen sich keine sicherheitsrelevanten Nebenwirkungen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass der Beobachtungszeitraum für relevante Impfnebenwirkungen noch zu kurz ist.“ Welche Nebenwirkungen auftreten könnten, hätte für die Leserinnen und Leser noch erwähnt werden können, zum Beispiel anhand des Studienprotokolls. Dort ist von möglichen Reaktionen an der Injektionsstelle die Rede, zum Beispiel Rötung, Schwellung oder Schmerzen wie auch von Nebenwirkungen wie Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit oder Muskelschmerzen (siehe auch: documentcloud.org/documents ). Inzwischen gibt es auch vereinzelt Berichte über Nebenwirkungen, die speziell bei Corona-Impfstoffen auftreten könnten. Als Folge der Impfung könnten Antikörper entstehen, die im Falle einer Zweitinfektion mit dem gleichen oder einem ähnlichen Subtyp des Virus zu einem schwereren Krankheitsverlauf führen könnten (siehe auch: nature.com/articles). Und zumindest theoretisch besteht die Gefahr, dass die Impfungen zu verstärkten Erkrankungen der Atemwege führen könnten (siehe auch: aerzteblatt.de/archiv). Insgesamt hätte man sich mehr Informationen dazu gewünscht, dass es sich hier um eine ganz neue Art von Impfstoffen handelt, den RNA-Impfstoffen – und welche möglichen Risiken damit verbunden sind. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Zulassungsprozess in USA und in Europa wird ausreichend erläutert, ebenso wie die Tatsache, dass es in der EU keine vorläufige Zulassung geben soll. Daraus wird deutlich, dass der Impfstoff erst nach einer Zulassung verfügbar sein wird. Außerdem wird als wichtiger Aspekt erwähnt, dass auch nach Zulassung nicht sofort genügend Impfdosen für alle Menschen vorhanden sein werden.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird auf die alternative Impfstoffentwicklung zum Beispiel von AstraZeneca hingewiesen. Zudem wird erwähnt, dass ein RNA-Impfstoff eine besondere und relative neue Form der Impfstoffentwicklung ist. Hier hätte man sich allerdings ein paar mehr Informationen zu den verschiedenen Impfstofftypen gewünscht. Insgesamt werten wir aber dennoch „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Der Zugang und die gerechte Verteilung von Impfstoffen in armen und reichen Ländern ist ein wesentlicher Aspekt der gegenwärtigen Diskussion. Dabei spielt natürlich auch der Preis der Impfstoffe eine Rolle. Es wäre daher wichtig und hilfreich gewesen, auf diese Problematik kurz einzugehen. Auch stellt sich die Frage, ob es bereits Informationen dazu gibt, ob die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden. Aber auch dazu erhalten Leserinnen und Leser keine Informationen. Daher werten wir alles in allem „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Auf die Krankheitssymptome wird im Artikel nicht eingegangen. Man erfährt lediglich am Rande, dass es leichte und schwere Infektionen gibt. Eine Übertreibung findet also nicht statt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Hier liegt eine der großen Stärken des journalistischen Beitrags. Es wird deutlich, dass wir uns bislang auf die Angaben aus der Pressemitteilung verlassen müssen, also noch keinen Zugang zu den echten Studiendaten haben, etwa hier: „Um auf eine geschätzte Wirksamkeit von mehr als 90 Prozent zu kommen, müsste es analog zur Berechnung der Zwischenpunkte im Studienprotokoll, also dem Ablaufplan der Studie, rechnerisch mindestens 86 Fälle gegeben haben – im Gegensatz zu höchstens acht Fällen unter den Geimpften. Fallzahlen für die jeweiligen Gruppen nannten die Firmen allerdings nicht.“ An mehreren Stellen wird beschrieben, wie die Wirksamkeit in der Studie weiter erforscht werden soll – etwa, dass es um das Erreichen von insgesamt 164 COVID-19-Kranke geht und nur ein kleiner Teil der Erkrankten in der Geimpften-Gruppe auftreten darf. Die erzielte Wirksamkeit von 90 Prozent wird in Bezug gestellt zu den 50 Prozent, die laut Studienprotokoll angestrebt wurden. Es wird aber auch klar, dass in einer Studie mit so wenigen Erkrankungsfällen der Zufall eine große Rolle spielen kann. Anhand von Expertenaussagen wird schließlich deutlich, was noch an Daten fehlt, um wirklich optimistisch zu sein, zum Beispiel Informationen über die Altersverteilung der 94 erkrankten Probanden der Studie.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Es kommen verschiedene, unabhängige Experten zu Wort.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Mögliche Interessenkonflikte sind im Text sofort ersichtlich: So wird Albert Bourla gleich als Geschäftsführer der an der Studie beteiligten Firma Pfizer vorgestellt. Selbst bei der Tropenmedizinerin Marylyn Addo wird sofort erwähnt, dass sie selbst an einem anderen Impfstoff forscht.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Es wird deutlich, dass es sich hier um einen neuen Impfstofftyp handelt, einen RNA-Impfstoff. Auch wird erläutert, wie schwierig es ist, einen Impfstoff möglichst schnell zu entwickeln – und dabei gründlich vorzugehen. Und schließlich wird klar, dass der Impfstoff nicht sofort allen zur Verfügung stehen kann.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Fehler finden können.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Es wurden von der Studie unabhängige Experten befragt und auch weitere Informationen in den journalistischen Beitrag eingebracht, die weit über den Inhalt der Pressemitteilung der Firmen Pfizer und Biontech hinausgehen.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Text ist zwar logisch aufgebaut, allerdings finden sich leider einige passive Formulierungen: „… zugelassen wird … wird verabreicht … verabreicht werden … werden Wirksamkeit und Dosierung getestet … kann getestet werden …. werden bestätigt“. Auch hätte man sich mehr Sprachbilder und anschauliche Vergleiche gewünscht. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Im Text finden sich an mancher Stelle Fachbegriffe, die für Laien schwer verständlich sein dürften – etwa „präklinisch“ als sperriger Fachausdruck oder „akute“ Nebenwirkungen. Auch den Ausdruck „Herdenimmunität“ kennt nicht jeder, ebenso wenig weiß man, was eine „statistisch valide“ Prüfung oder „jenes Oberflächenproteins“ bedeutet. Insgesamt werten wir daher nur knapp „ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Angesichts der steigenden Infektions- und Erkrankungszahlen ist die Relevanz und Aktualität zweifelsfrei gegeben.

Medizinjournalistische Kriterien: 13 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar