Bewertet am 23. Februar 2020
Veröffentlicht von: Der Standard

Die erste Phase der Schwangerschaft ist bekanntlich eine äußerst sensible Zeit. Umso wichtiger ist es, genau zu untersuchen, welche Umweltstoffe sich negativ auf das frühe Wachstum im Mutterleib auswirken können. Ein Artikel der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ greift daher zu Recht eine aktuelle Studie zu der Frage auf, ob die Verwendung parabenhaltiger Kosmetika in der Schwangerschaft mit der Entstehung von Übergewicht nach der Geburt zusammenhängen könnte. Leider wird für den Beitrag allerdings der Text der Pressemitteilung eines der beteiligten Forschungsinstitute fast identisch übernommen.

Zusammenfassung

Ob die Anwendung parabenhaltiger Kosmetika während der Schwangerschaft beim Nachwuchs Übergewicht begünstigt, hat eine aktuelle Studie untersucht. „Der Standard“ hat diese Arbeit zum Anlass genommen, über das Thema zu berichten. Auch das äußerst komplexe Studiendesign wird ausführlich beschrieben: Ausgangspunkt war eine Langzeitstudie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung, in der die Bedeutung von Umweltbelastungen in sensiblen kindlichen Entwicklungsphasen für das spätere Auftreten von Allergien und Atemwegserkrankungen oder Übergewicht untersucht wird. Für den darin entdeckten möglichen Zusammenhang zwischen aufgenommenen Parabenen und späterer Gewichtszunahme, insbesondere von Mädchen, wurde nach einer Erklärung gesucht – mit Hilfe von Untersuchungen in Zellkultur und im Mausmodell. Hier liegt also eine wissenschaftlich elegante Studie vor, die versucht, den Befund einer Beobachtungsstudie mittels Zell- und Tierversuchen zumindest ansatzweise zu erklären. Allerdings gelingt es im journalistischen Beitrag an keiner Stelle, diese Besonderheit den Leserinnen und Lesern deutlich zu machen. Auch wird nicht erläutert, wie hoch die Konzentrationen der Parabene in Kosmetika sein dürfen. Vor allem aber fällt auf, dass bei dem Artikel keinerlei journalistische Eigenleistung vorliegt. Der Text entspricht fast komplett der Pressemitteilung eines beteiligten Forschungsinstituts.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Im journalistischen Beitrag wird erläutert, dass die Verwendung parabenhaltiger Kosmetika während der Schwangerschaft bei den Kindern später Übergewicht begünstigen kann. Welche Paraben-Konzentrationen dafür vorliegen müssen und wie hoch genau das Risiko für die Kinder ist, wird nicht erwähnt – was allerdings auf Grundlage der vorliegenden Studie (Kohortenstudie plus Versuche in Zellkultur und Tierversuch) auch nicht möglich ist. Umgekehrt ist daher auch keine Aussage darüber zu treffen, wie groß der Nutzen ausfällt, wenn Schwangere parabenhaltige Kosmetika meiden. Daher werten wir die vorgenommene Darstellung im Artikel als angemessen und werten „ERFÜLLT“.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Im vorliegenden Beitrag geht es um ein spezifisches Gesundheitsrisiko für ein Kind, wenn die Mutter während der Schwangerschaft parabenhaltige Kosmetika verwendet: die Entstehung von Übergewicht. Indirekt wird also deutlich, dass es von Nutzen sein kann, diese Kosmetika zu meiden. Auf die Risiken der Meidung dieser Kosmetika einzugehen oder – umgekehrt – weitere mögliche Risiken der Parabene für die Gesundheit zu erläutern, wäre unserer Ansicht nach zu weit gegriffen. Daher werten wir dieses Kriterium als „NICHT ANWENDBAR“.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Das gesamte komplexe Forschungsdesign liefert keinen endgültigen Beweis dafür, dass die Aufnahme von Parabenen in der Schwangerschaft tatsächlich eine Gewichtszunahme der Kinder bewirkt. Wie die Forscher im Fachartikel selbst schreiben, handelt es sich um ein Proof-of-concept – also eine sich im Tiermodell bestätigende Hypothese. Dies wird im Artikel nicht hinreichend deutlich. Zunächst heißt es: „Ausgehend von den Daten der Mutter-Kind-Studie LINA konnten die Wissenschaftler epigenetische Veränderungen identifizieren, die durch Parabene hervorgerufen werden und die natürliche Regulation des Sättigungsgefühls im Gehirn stören.“ Erst weiter unten im Text erfahren die Leser, dass dieser Zusammenhang lediglich im Mausmodell erforscht wurde. Der beteiligte Forscher Tobias Polte wird zwar mit der Aussage zitiert: „Bei der Gewichtsentwicklung spielen natürlich noch weitere Faktoren eine wichtige Rolle, wie etwa eine hyperkalorische Ernährung sowie Bewegung.“ Und weiter heißt es im Text: „Wie stabil die epigenetischen Veränderungen sind, und ob sie weitervererbt werden können, darüber ist bislang noch keine Aussage möglich.“ Dennoch gewinnen die Leser insgesamt den Eindruck, der Zusammenhang sei eindeutig belegt, was so jedoch nicht richtig ist. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Mit Tobias Polte und Irina Lehmann werden lediglich zwei Forscher zitiert, die beide an der Studie beteiligt waren. Weitere, möglichst unabhängige Experten kommen nicht zu Wort.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Beitrag ist fast identisch mit der Pressemitteilung des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung. Eine ausreichende eigene journalistische Leistung ist nicht zu erkennen.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es gibt zahlreiche Studien und auch schon zusammenfassende Übersichtsarbeiten zu Parabeneffekten – auch in Bezug auf die Wirkungen beim Ungeborenen (ncbi.nlm.nih.govncbi.nlm.nih.gov;ncbi.nlm.nih.gov). Diese werden im aktuellen Artikel jedoch nicht erwähnt. Daher wird nicht darauf eingegangen, dass andere Studien auch eine gegensätzliche Wirkung gezeigt haben – nämlich eine Gewichtsabnahme und geringere Größe. Interessant wäre es gewesen, Studien zu Parabenen in der Muttermilch zu erwähnen. Hier wäre nämlich ein paradoxer Effekt zu erwarten, da sich die Chemikalien auch in der Muttermilch anreichern, gestillte Kinder jedoch eher normalgewichtig sind. Dies würde es notwendig machen, in den Analysen das Stillen als weiteren Einflussfaktor zu berücksichtigen. Vollkommen offen ist zum Beispiel auch, ob Frauen, die als Schwangere parabenhaltige Kosmetika anwenden, diese auch als Babykosmetika verwenden und welcher Einfluss hier besteht. Dann würde es wenig nützen, Parabene in der Schangerschaft zu vermeiden. Somit es auch zur Einordnung der aktuellen Studienergebnisse wichtig gewesen, frühere wissenschaftliche Arbeiten zu erwähnen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Im Beitrag werden keine Alternativen zur Parabenvermeidung genannt, um das Risiko für  späteres Übergewicht bei Kindern zu reduzieren. Hier hätte zum Beispiel eine zuckerarme Ernährung während der Schwangerschaft erwähnt werden können. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Dass parabenhaltige ebenso wie parabenfreie Kosmetika im Handel frei erhältlich sind, wird aus dem Kontext des Artikels deutlich.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Zu den Kosten von parabenhaltigen und nicht-parabenhaltigen Kosmetika wird nichts gesagt. Dabei wäre interessant gewesen zu erfahren, ob zwischen den beiden Kosmetika-Gruppen Preisunterschiede bestehen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Übergewicht bei Kindern ist mit zahlreichen Gesundheitsrisiken verbunden, einem erhöhten Risiko für Stoffwechselerkrankungen wie Typ-2-Diabetes etwa, Bluthochdruck oder Gelenkproblemen. Vor den möglichen Gesundheitsproblemen dieser Kinder zu warnen, ist also gerechtfertigt und nicht übertrieben.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Das Thema Übergewicht ist relevant und aktuell, und die zeitnah aufgegriffene neue Studie bietet einen aktuellen Anlass, über den möglichen Zusammenhang zwischen Parabenen und der Entstehung von Übergewicht zu berichten.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Der Beitrag liest sich auf Anhieb wie eine Pressemitteilung, die noch dazu eher auf wissenschaftliche Ausdrucksweise achtet als auf Verständlichkeit. Zudem wird fast übergangslos von der Kohortenstudie auf die Zellkulturen und Tierversuche gewechselt, ohne dass hier erläutert würde, was dies inhaltlich bedeutet, etwa für die Aussagen zu den Beobachtungen. Den Versuch, mit Bezug auf „schwerwiegenden Nebeneffekt“ eine witzige Bemerkung („im wahrsten Sinne des Wortes“) unterzubringen, halten wir bei diesem ernsten Thema sowohl für die Pressemitteilung als auch im journalistischen Text für unangemessen.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Der Artikel lässt außer Acht, dass es Grenzwerte gibt, also Konzentrationen von bestimmten Parabenen in Kosmetika durchaus zugelassen sind. Auch bleibt unerwähnt, dass dies zum Beispiel vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) immer wieder überprüft und aktualisiert wird. Stattdessen wird aus der Pressemitteilung einfach übernommen, dass Schwangere diese Produkte „unbedingt“ meiden sollten. Zudem suggeriert die Überschrift des Beitrags „Wie gefährlich sind Parabene in Kosmetika“), dass es sich hier um ein neues Forschungsfeld handelt. Tatsächlich gab es bereits Anfang der 2000er Jahre Studien zum erhöhten Brustkrebsrisiko bei Anwendung von Parabenen, auch die Wirkungen in der Schwangerschaft und durch das Stillen auf die Nachkommen werden ebenfalls seit Jahren untersucht (siehe auch diese Übersichtsarbeiten: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed und https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed ). Da diese Aspekte jedoch keine tatsächlichen Faktenfehler darstellen, werten wir noch knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 3 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar