Bewertet am 19. Februar 2020
Veröffentlicht von: Tagesspiegel

Meist denkt der Mensch nicht darüber nach: Man legt sich abends ins Bett und schläft ein, wacht morgens auf und geht ganz selbstverständlich seinen Alltagsroutinen nach. Was dabei aber im Gehirn genau passieren könnte, skizziert ein aktueller Beitrag des Tagesspiegel: Anlässlich einer neuen Studie an Makaken widmet sich der ausführliche und mit sichtbarer Kompetenz geschriebene Text dem spannenden Thema, was eigentlich Wachheit und was Schlaf bedeutet – und was das mit unserem Bewusstsein zu tun hat.

Zusammenfassung

Der Text greift ein relevantes, spannendes Thema aus dem Gebiet der Hirnforschung auf – die Frage nach Wachheit und Schlaf und die Übergänge von dem einen in den anderen Zustand. Der Beitrag des Tagesspiegel berichtet zunächst über die untersuchten Hirnregionen, vor allem über den Thalamus im Zwischenhirn. Darüber hinaus geht der Artikel auch darauf ein, wofür die hier eingesetzte Methode – die Tiefe Hirnstimulation – in der Medizin bereits eingesetzt wird. Nach einem lockeren und ansprechenden Einstieg in den Text wird es daher teilweise etwas technisch, so dass Laien ohne Vorkenntnisse sich womöglich schwertun, alle Details des Artikels zu verstehen. Sehr gut gelungen ist jedoch die Einordnung der aktuellen Studie in den medizinischen Kontext. Ebenso ist die Beschreibung der Versuche an den Affen gut verständlich. Schade nur, dass der Beitrag nicht auf mögliche Risiken der Tiefen Hirnstimulation eingeht. Insgesamt jedoch bestätigt sich der erste Eindruck: Der als Positiv-Beispiel vorgeschlagene Beitrag vermittelt ein aktuelles Forschungsthema meistenteils auf anschauliche, kompetente und differenzierte Art und Weise.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Es handelt sich bei der beschriebenen Studie um Grundlagenforschung an Tiermodellen. Daher kann der Nutzen für Menschen noch nicht konkret beziffert werden, zumal die untersuchten Affen auch nicht im Koma lagen, sondern in Narkose. Daher ist es völlig ausreichend zu erklären, inwiefern diese Forschung kranken Menschen eines Tages nützlich sein könnte. Dies wird im aktuellen Beitrag auf kritische Art und Weise getan.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Komplikationen, die mit einer Tiefen Hirnstimulation einhergehen (Narkose, OP, Infektionsrisiko, Wundheilungsstörungen etc.), werden im Artikel nicht benannt – obwohl der Artikel darauf hinweist, dass die Therapie bereits bei bestimmten Erkrankungen wie Parkinson mit Erfolg eingesetzt wird. An dieser Stelle hätte kurz erklärt werden können, welche Risiken und Nebenwirkungen dieses Verfahren mit sich bringt (siehe etwa diese Übersichtsarbeit: ncbi.nlm.nih.gov/books). Ein oder zwei Sätze hätten bereits genügt, um den Lesern und Leserinnen zu verdeutlichen, welche konkreten Nebenwirkungen ein so massiver Eingriff ins Gehirn haben kann.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Das Studiendesign wird klar beschrieben: die Hypothese, die untersuchten Tiere, die Beobachtungen und Ergebnisse, die Einschränkungen und möglichen Interpretationen. Zudem wurden die Ergebnisse und auch die Zukunftsvisionen der an den Experimenten beteiligten Forscher von anderen Experten kritisch eingeordnet, zum Beispiel hier: „Der Zustand der „erweckten“ Affen sei nicht identisch mit einem normalen wachen Bewusstsein, sagt der Neurologe Nicholas Schiff von der Cornell Universität: ‚Der durch die Stimulation aktivierte Zustand, den das Modell erzeugt, unterscheidet sich sehr vom normalen Wachzustand.‘ “
Außerdem wird im Artikel erläutert, dass die durchgeführten Verhaltenstests sehr begrenzt sind und in Studien am Menschen dem Niveau beim Übergang vom Verhalten im vegetativen Zustand zum frühen minimal bewussten Verhalten entsprechen. Dazu wird weiter zitiert: „Wir haben keine Möglichkeit, sinnvoll zu erfahren, wie die Empfindungen im minimal bewussten Zustand sind.“ Es wird auch deutlich, dass die Tests bisher nur an zwei Affen durchgeführt wurden. Zudem wird auf wichtige Einschränkungen der Experimente hingewiesen: „Wie diese aus der Narkose erwachten Tiere wirklich dachten, was sie wahrnahmen, das herauszufinden bleibe eine Herausforderung,“ sagt Laureys, „weil wir mit Makaken weder verbal noch nonverbal kommunizieren können.“

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Es werden drei Experten zitiert, die offenbar nicht in die Studie involviert sind. Dies wird allerdings nicht explizit erklärt, so dass die Leserinnen und Leser sich womöglich fragen, welche Rolle die Experten im Text spielen. Auf mögliche Interessenkonflikte wird nicht hingewiesen, allerdings haben wir nach kurzer Suche auch keine gefunden und werten daher ERFÜLLT.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Beitrag geht weit über die Pressemitteilung hinaus, hat einen eigenen Einstieg, vor allem aber eigene Experten und damit ausreichend unabhängige Einschätzungen. Auch die allgemeinen Überlegungen zum Bewusstsein bzw. dem Wachsein gehen über das hinaus, was in den beiden Pressemitteilungen steht, die anlässlich der Publikation der Studie im Fachjournal „Neuron“ veröffentlicht wurden (siehe auch: news.wisc.edu/researchers-wake-monkeys-by-stimulating-engine-of-consciousness-in-brain/ und sciencedaily.com).

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es wird deutlich, dass der grundsätzliche Ansatz bereits seit längerem besteht (insbesondere auf die Anwendung bei Parkinson-Patienten wird ausführlich eingegangen, Depressionen und Tremor werden genannt) und mit unterschiedlichem Erfolg bereits am Menschen angewendet wird (siehe auch eine aktuelle Übersichtsarbeit: thejns.org). Zudem wird klar, dass die Tiefe Hirnstimulation als Mittel, um Menschen aus dem Koma zu holen, einen neuen Ansatz darstellt, der indes schon in ähnlichen Experimenten getestet wurde bzw. wird: an Menschen, die gerade erst aus dem Koma erwacht sind. Schließlich erfahren Leserinnen und Leser auch, dass der aktuelle Ansatz aus dem Artikel in der Fachzeitschrift „Neuron“ insofern neu ist, als erstmalig bei Makaken der Übergang vom Schlaf- in den Wachzustand durch Stimulation einer sehr eng umschriebenen Region mit genau definierten Stromstößen ausgelöst und beobachtet werden konnte – wobei die Begriffe „Wach- und Schlafzustand“ etwas unscharf sind.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Obwohl der Artikel von Experimenten im Tierversuch ausgeht, werden Bezüge zu Therapieansätzen beim Menschen hergestellt. Insofern sollten auch entsprechende Alternativen zu diesen Ansätzen kurz erwähnt werden. Wie aber heutzutage zum Beispiel versucht wird, Menschen aus dem Koma zu holen, wird nicht erklärt. Ob es überhaupt aktuelle Ansätze gibt, die routinemäßig angewandt werden, wird nicht deutlich (dazu ein interessanter Artikel: slate.com/technology). Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Es wird deutlich, dass es sich bislang lediglich um einen Tierversuch handelt und Forscher sehr weit in die Zukunft denken, wenn sie von einer möglichen Anwendbarkeit bei Koma-Patienten sprechen – zum Beispiel der Neurowissenschaftler Steven Laureys im Text: „Wir müssen noch sehr viel mehr verstehen, bevor wir solche Instrumente in einem klinischen Kontext wirklich anwenden können.“ Deutlich wird auch, dass Tiefe Hirnstimulation bereits bei anderen Erkrankungen wie etwa Parkinson am Menschen zum Einsatz kommt.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Im Beitrag hätte man auf die Kosten eingehen können, als es um den Einsatz der Tiefen Hirnstimulation bei bestimmten Erkrankungen geht. Doch handelt es sich in diesen Fällen um chronische Erkrankungen, beim Wecken von Patienten aus dem Koma dagegen wohl eher um eine kurzzeitige Behandlung. Es stellt sich also die Frage, ob die Kosten tatsächlich vergleichbar wären, da es im aktuellen Beitrag vor allem um die Darstellung von experimentellen Ansätzen und Grundlagenforschung geht. Es erscheint uns daher als vertretbar, die tatsächlichen oder potenziellen Kosten im Text nicht anzusprechen. Daher werten wir das Kriterium als „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Krankheitsübertreibungen gibt es in diesem Text nicht, eher im Gegenteil: Es wird erst gar nicht auf das Leid eingegangen, das entstehen kann, wenn ein Mensch im Koma liegt – und somit auch als ein Grund für diese Art von Tierversuchen gelten kann.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Das Thema ist vor allem relevant, weil es sich mit einem zentralen Element des menschlichen Daseins, dem Bewusstsein bzw. dem Wachsein beschäftigt. Mehr über Wach-, Schlaf- und Bewusstseinszustände zu erfahren ist sowohl enorm wichtig für die Erforschung der Physiologie, als auch für pathologische Prozesse (wie etwa Parkinson, Koma, Depression) und im nächsten Schritt für etwaige Therapien. Zudem kann eine aktuelle Studie in einem hochrangigen Fachjournal ein guter Anlass sein, ein Thema aufzugreifen. Dies wurde hier sehr zeitnah vollzogen.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Die Sprache ist an einigen Stellen etwas sperrig, vor allem, wenn es um das Bewusstsein geht. In vielen Textpassagen werden vor allem Experten zitiert, die sich äußern und erklären. Hier hätten an einigen Stellen womöglich mehr eigene Formulierungen zu einem leichteren Lesefluss beigetragen. Die Einführung in das Thema dagegen ist sehr gelungen, sie erfolgt mit einem humorvollen Bezug zur Sesamstraße (mit Prof. Hastig samt Verlinkung zur Sendung: youtube.com/watch?v=LmbvornLm24) auf leichte und beschwingte Weise, im weiteren Verlauf des Textes verliert sich diese Leichtigkeit allerdings ein wenig. Trotzdem bleiben das Thema, der Kontext, die Versuche wie ihre (möglichen) Bedeutungen und Einschränkungen gut verständlich – und es wird klar vermittelt, warum das Thema relevant ist.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Die Angaben zur Studie stimmen mit den Angaben im Paper überein, auch die Informationen zur Tiefen Hirnstimulation bei Parkinson sind richtig und die Beschreibungen der neuronalen Funktionen des CL. Der Titel des Artikels jedoch führt die Leserinnen und Leser etwas in die Irre: Titel und Unterzeile suggerieren, dass es gelungen sei, Patienten aus der Narkose zu wecken – und dass Komapatienten Hoffnung geben könne. Das ist so nicht richtig. Auch im Text ist eine Passage missverständlich formuliert, als erwähnt wird, dass der Neurologe Nicholas Schiff von der Cornell-Universität die Tiefe Hirnstimulation als Erster eingesetzt hat: „2007 hatte Schiff die Tiefe Hirnstimulation als Erster eingesetzt, bei einem 38-jährigen Amerikaner, der nach einem Koma zwar erwacht war und die Augen geöffnet hatte, aber nicht kommunizieren konnte.“ Gemeint ist, dass Schiff diese Form der Therapie 2007 erstmals bei einem ehemaligen Komapatienten eingesetzt hat. Die Tiefe Hirnstimulation selbst wird schon seit vielen Jahrzehnten eingesetzt, als Therapie gegen das Muskelzittern (essentieller Tremor) ist die Behandlung zum Beispiel schon seit 1995 in der EU zugelassen (hier ein historischer Überblick: ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3785222/). Da es sich jedoch hier um unpräzise Formulierungen und keine Faktenfehler im eigentlichen Sinne handelt, werten wir insgesamt dennoch „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar