Bewertet am 6. Dezember 2019
Veröffentlicht von: Deutschlandfunk

Frauen sollen ihre eigene Plazenta verspeisen? Was manche für natürlich halten, finden viele andere schon als Vorstellung widerlich. Im aktuellen Beitrag des Deutschlandfunks wird jedoch nicht über die emotionalen Reaktionen auf diesen US-Trend berichtet. Stattdessen wird darüber berichtet, ob und wie sehr die außergewöhnliche Mahlzeit der Gesundheit dienen kann. Ein Thema, das sicher viele Zuhörerinnen und Zuhörer interessiert, leider jedoch nur oberflächlich dargestellt wird. Eine Einordnung der wissenschaftlichen Evidenz fehlt völlig.

Zusammenfassung

Ohne Zweifel wurde in diesem aktuellen Radiobeitrag des Deutschlandfunks ein Thema gewählt, dass viele Menschen interessieren dürfte. In einer Vielzahl von Diskussionen darum, was Natürlichkeit bei einer Geburt heute bedeutet, folgt nun ein Trend aus den USA, der die gesundheitlichen Vorzüge des Verzehrs des Mutterkuchens (Plazenta) anpreist. Roh oder in Pulverform soll das angeblich die Milchproduktion der Mütter stimulieren und den Frauen ungeahnte Energie verleihen. Bei allem Lob für die Themenauswahl lässt der Beitrag eine wissenschaftlich saubere Einordnung vermissen. Nur die in der Studie involvierte Forscherin wird zitiert, wobei auch sie nur oberflächlich informiert und teilweise über mögliche Effekte des Plazenta-Verzehrs spekuliert.

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Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Was die Plazentophagie, das Verspeisen der Nachgeburt, bringen könnte, sollte in diesem Beitrag beantwortet werden. Das geschieht jedoch nicht, die im Beitrag angeführten Studienergebnisse werden nicht eingeordnet. Die Studienautorin selbst erwähnt lediglich, dass die Hormone der Plazenta bei der Verarbeitung in ihrer Konzentration „ganz stark abnehmen“. Eine nähere Quantifizierung findet nicht statt, die Ergebnisse sind ungenau dargestellt. Denn auch eine geringe Hormonkonzentration könnte noch Effekte haben. Zudem wird spekuliert: „Möglicherweise gäbe es … andere Stoffe …“, ohne dass dies durch andere Studien belegt würde. Ebenso bleibt unklar, auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen die Aussage der Forscherin basiert, dass die Plazenta in roher Form „durchaus gesund sein“ könnte. Zwar heißt es, dass der Verzehr der rohen Plazenta „im Tierreich“ die Milchproduktion in Muttertieren auslöse, aber auch dies bleibt nur als Behauptung im Beitrag stehen. Auch fehlt die Eingrenzung dessen, was der „Nutzen“ sein könnte. So nehmen 70 % der Mütter ihre Plazenta in irgendeiner Form zu sich, um einer postpartalen Depression nach der Geburt zu entgehen, berichteten US-Forscher aus Nevada, Kalifornien und Oregon im Journal Birth (2018) (ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29722066). Man hätte also unterscheiden können: Nutzen für die Stimmungslage, Nutzen für die Laktation, Nutzen für die körperliche Fitness, Nutzen für die Ernährung des Kindes. Dies wurde im Beitrag leider unterlassen.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Es gibt Hinweise darauf, dass Viren und Bakterien (zum Beispiel Streptokokken) über die Plazenta – auch in getrockneter Form – übertragen werden können. Auf eine mögliche Keimübertragung als Risiko geht der Beitrag nicht ein, dabei kann ein frischer Mutterkuchen auch Nährboden für Keime sein, die nicht aus der Plazenta oder von der Mutter selbst stammen (cdc.gov/mmwr/volumes/66/wr/mm6625a4.htm). Zudem könnten schädliche Metalle oder Spurenelemente im Mutterkuchen enthalten sein – Cadmium zum Beispiel wurde in erhöhter Konzentration in Plazenten rauchender Schwangeren nachgewiesen. Auch dies bleibt unerwähnt. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Die Qualität der Studien zur Plazentophagie wird im Beitrag nicht erläutert. Stattdessen suggerieren Sätze wie „Sophia Johnson wollte es genauer wissen“, dass hier die Frage zu den möglichen Gesundheitsfolgen zuverlässig beantwortet wird. Tatsächlich wurden aber nur Hormonkonzentrationen bestimmt und das auch nur im Tierversuch. Es hätte erläutert werden müssen, dass eine Hormonkonzentration in der Plazenta noch keinerlei Rückschlüsse zulässt über deren Effekte bei Mutter und Kind. Auch wird nicht erwähnt, dass bereits Studien zu den Hormonkonzentrationen im Speichel der Mütter nach Verzehr existieren. Ebenso wenig wird erklärt, dass die eigentliche Wirkung darin bestünde, dass sich die Stimmung, Milchproduktion und Fitness der Frauen von Müttern unterscheidet, die keine Plazenta eingenommen haben. Dazu gibt es Studien am Menschen, die der Einordnung hätten dienen können (womenandbirth.org/article). Immerhin wird erwähnt, dass „kleinere Studien aus den USA“ keine Hinweise darauf liefern, dass Plazenta-Kapseln besser als Placebos wirken. Daher werten wir nur knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Der Beitrag zitiert allein die Erstautorin/Doktorandin einer einzigen Studie. Lediglich am Ende werden „Anthropologen von der Universität aus Nevada“ erwähnt, als Zeugen für die Frage, warum die Plazentophagie beim Menschen nicht mehr üblich ist. Das ist der einzige Bezug auf andere Forscher/Expertengruppen, bleibt aber kurz und vage. Die übrigen Hinweise wie „Auch darüber machen sich Wissenschaftler Gedanken“ können nicht als Hinweis auf andere Experten gewertet werden. Hinweise auf einen Interessenskonflikt der Erstautorin haben wir nicht gefunden und halten es dafür auch nicht nötig, explizit darauf hinzuweisen. Insgesamt werten wir knapp „ERFÜLLT“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Es liegt uns keine aktuelle Pressemitteilung vor, wir gehen daher von einer journalistischen Eigenleistung aus und werten „ERFÜLLT“.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es wird deutlich, dass es sich – insbesondere in den USA – um einen Trend unter Frauen handelt. Eher implizit verstehen die Zuhörer auch, dass Wissenschaftler der Frage nach möglichen Gesundheitseffekten schon länger nachgehen. Leider wird allerdings nicht erläutert, dass es bereits seit 100 Jahren Publikationen zum Thema gibt, es sich dabei aber meist um anekdotische Einzelfallberichte handelt. Erst in den vergangenen Jahren sind einige wenige wissenschaftlich fundierte Studien veröffentlicht worden. Daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es werden keine Alternativen genannt, um die Milchproduktion nach der Geburt zu fördern oder den Frauen zu mehr Energie zu verhelfen.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Es wird deutlich, dass das Produkt roh oder verarbeitet verzehrt werden kann, dass Frauen es als Pulver oder Kapseln einnehmen. Ob diese Kapseln jedoch in Deutschland erhältlich sind, bleibt unklar. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Wenn es um den Verzehr der Plazenta nach der Geburt gehen soll, entstehen dabei keine Kosten. Allerdings werden inzwischen auch Kapseln mit Plazenta-Pulver vermarktet. Angesichts der sehr unklaren Evidenzlage wäre es hier interessant gewesen zu wissen, wie viel diese Produkte kosten. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Im Beitrag wird keine konkrete Erkrankung beschrieben. Darum werten wir „NICHT ANWENDBAR“.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Das Thema beschäftigt viele Frauen, ist ungewöhnlich und damit für viele Zuhörer sicher interessant. Einen aktuellen Anlass für den Bericht sehen wir allerdings nicht. Die Studie der im Beitrag erwähnten Forscherin ist bereits im Jahr 2018 erschienen. Schade ist auch, dass ein besonders relevanter Aspekt des Themas unerwähnt bleibt: Viele Frauen verspeisen in den USA die Plazenta in der Hoffnung, einer Depression nach der Geburt vorzubeugen. Dennoch finden wir die Wahl des Themas insgesamt originell und werten daher „ERFÜLLT“.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Der Artikel ist verständlich geschrieben und logisch aufgebaut. Allerdings werden manche Zusammenhänge nicht erklärt, so dass sie für Laien unverständlich bleiben. So wird die Erstautorin der Studie damit zitiert, dass sie „natürlich“ Progesteron und Östrogene analysiert habe. Warum das so natürlich ist und was diese Hormone im Körper bewirken, dürfte nur wenigen Hörerinnen und Hörern klar sein. Auch fallen manche Formulierungen etwas holprig aus, etwa dass Oxytocin das Kuschelhormon sei, dass soziale Bindungen „macht“. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Als Faktenfehler fällt auf, dass laut Publikation nicht alle Hormone durch die Verarbeitung zu Pulver zu 99 Prozent zerstört wurden, das Gestagen bildet hier eine Ausnahme. Hier wird also übersehen, dass ein wichtiges Hormon durchaus noch nach Verarbeitung vorhanden ist (ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29941176). Dies könnte für die Bewertung der Wirksamkeit dieser Pulver relevant sein. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 4 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar